Freitag, 2. März 2012

Die Exploitation des defizitären Selbst

Die Exploitation des defizitären Selbst
Mediale Konstruktionen der Identität in aktuellen Sendeformaten des Privatfernsehens




Zu Beginn des Essays möchte ich Sie, liebe Leserinnen und Leser bitten, sich auf das folgende alptraumhafte Gedankenspiel einzulassen: Stellen Sie sich vor, Sie sind, durch eine schwere Erkrankung - gebrochene Beine, zwei eingegipste Hände, oder ein schrecklicher Hexenschuss - lassen Sie ihrer Fantasie hier freien Lauf, gezwungen, eine komplette Woche in ihrer Wohnung zu verbringen. Geistig sind sie vollkommen fit, nur besteht das Problem, dass es aus einem Fernseher mit Kabelanschluss in ihrer Wohnung nichts, zur Ablenkung dienendes, gibt. Keinen Laptop, keine Bücher, keine Cds, nix, nada! Sie sind also gezwungen, sich eine ganze Woche mit Hilfe des Fernsehers und des über ihm empfangenen Programms von ihrem tristen Sein abzulenken. Entzug durch 24 stündige Mittagsschläfchen gelten an dieser Stelle nicht!
Dem aber noch nicht genug. Zur weiteren Steigerung dieser dantischen Höllenvision kommt, dass der Fernseher Ihnen nur das Sehen von privaten Fernsehsendern erlaubt. Das heißt für Sie, liebe Leserinnen und Leser, die gerade in den freundlichen Gedanken an eine Woche „ARTE“ und diverse, mehr oder minder schlechte, Talk-Shows und Dokumentationen des öffentlich-rechtlichen Fernsehsehens geschwelgt haben, dass Sie ebenso dazu verdammt sind, eine Woche den lieblichen Serienformaten von Sendern wie „RTL“, „RTL 2“, SAT1“, „VOX“ usw. zu frönen.
Lassen Sie diese Vision für einen Moment sacken, trinken Sie anschließend einen Schluck zur Beruhigung der Nerven von dieser abenteuerlichen Gedankenreise und beten Sie dann noch einmal dafür, dass die eben illusionierte Situation Ihnen so nie in der Realität widerfährt. Ich jedenfalls wünsche es Ihnen nicht.

Was aber für Erkenntnisse, erst recht solche, die es Wert sind in einem solchen Essay Würdigung zu erfahren, würde uns eine solche Gedankenreise oder gar das Praxisexperiment bringen? Wahrscheinlich zuerst die banale Erkenntnis, dass es in der derzeitigen Medienlandschaft nichts gibt, was es nicht gibt. Eingebildete TV-Köche und Hobbybetriebswirtschaftler erklären, noch unfähigeren Köchinnen und Köchen und Betriebswirtschaftlern, wie sie ihr Hotel, ihr Restaurant oder ihre bankrotte Frittenbude im Vorort von Lutherstadt-Eisleben, oder einem anderen Ort, von dem die meisten Zuschauerinnen und Zuschauer noch nie im Leben vorher etwas gehört haben, möglichst mondän und touristenattraktiv umgestalten können, um somit letztendlich gar so etwas wie Profit damit erwirtschaften zu können. Das die defizitäre wirtschaftliche Situation eines Unternehmens aber nicht immer nur allein aus einer defizitären inneren Struktur entstehen und resultieren muss, sondern auch zu einem nicht unerheblichen Teil in Bezug zu gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen steht, wird von Sendeformten wie VOX's „Rosins Resturant – Eine Sternekoch räumt auf!“, mit einem Marktanteil 7,3% und dem markanten Gesicht von Sternekoch Frank Rosin, vollends ignoriert. Die zum Teil immer noch schlechte Infrastruktur in ländlichen Regionen im Osten Deutschlands, egal! Die allgemeinen Folgen des demographischen Wandels und Arbeitsmarktentwicklungen, zumeist dominiert durch eine hohe Landflucht und Arbeitslosigkeit, in ländlichen Gebieten, geschenkt! Es sind die abgebildeten und präsentierten Identitäten, die für die Resultate einzig und allein, gründend in ihrem inneren, als defizitär kreierten, Sein, verantwortlich sind. Aber wie heißt es so schön: Pech im Spiel, Glück in der Liebe. Oder, in die Logik der TV-Formate transformiert: Wer nicht mit seiner beruflichen Identität in unsere Sendeformate passt, der tut dies bestimmt mit seiner privaten Identität.
Demzufolge gibt es auch keine Gruppe, die nicht von irgendeinem Sendeformat gesucht wird: Bäuerinnen und Bauern, Oma und Opa, seit Jahrhunderten verschollene Familienangehörige, Schwiegertöchter und Söhne, Abnehmwillige, Zuwangsgestörte und Singlemänner und Frauen in rauen Massen selbstverständlich sowieso. Sendungsformate wie „Schwiegertochter gesucht“ oder „Bauern sucht Frau“, beide im Programm von „RTL“, sind Quotenhits und bereichern, oder penetrieren, je nach Sicht, bereits jahrelang das abendliche Fernsehprogramm mit immer zunehmender Zuschauerresonanz. Die, in den Sendung präsentierten, Menschen haben es vielfach zu Ruhm und medialer Omnipräsenz gebracht, Charthits inklusive. Insbesondere solche die, sollten sie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer einmal begegnen, wahrscheinlich dazu bewegen würden, aus ihren Gräbern aufzuerstehen, ihre formulierte Kritik an der Kulturindustrie nochmals zu radikalisieren und sich im Anschluss daran, im Angesicht der Fernsehlandschaft, selbst zu richten. Personen wie der Schäfer Heinrich, mit seinem extravaganten Opus-Magnus, dem Schäferlied, oder das Traumpaar, bestehend aus Bauer Josef und seiner Frau Narumol, die alle drei der Sendung „Bauer sucht Frau“ entstammen, sind selbst Personen bekannt, die es tunlichst vermeiden solche Sendeformate oder auch nur die ausstrahlenden Sender zu konsumieren. Und für all die, die weder beruflich, noch privat mit ihrem Sein im Reinen sind, bietet „VOX“ immer noch das Format „Goodbye Deutschland. Die Auswanderer“. Bedingung für die Teilnahme an dieser Sendung ist aber erstens, das man als Teilnehmer oder Teilnehmerin, am besten inklusive Familie und Kindern, weder Ahnung von der Sprache, noch von der Kultur des Landes besitzt, dass Ziel der ersehnten Ausreise darstellt. Und zweitens, dass man für seine Zukunft im Ausland noch weniger Planung, Ahnung und finanzielle Mittel besitzt, als für das bisherige Leben in der Bundesrepublik. Auch wenn die beiden Kernkompetenzen der AuswandererInnen für sie selbst selbstverständlich eher hinderlich denn förderlich sind, so sichern sie „VOX“ doch direkt Material für zwei Sendeformate. Einmal Auswanderung und einmal wieder Einwanderung. Den geschundenen, stigmatisierten und zumeist auch finanziell bankrotten Individuen, die solche Experimente, im Anschluss an die Dreharbeiten, wieder in die Realität entlassen, kann sich dann ja immer noch Peter Zwegat in seinem „RTL“-Format „Raus aus den Schulden“ bedienen. Oder es wird einfach wieder ein Imbiss gegründet und im Anschluss daran der bereits erwähnte Frank Rosin mit seiner Show gerufen. Ein autopoiesischer Zyklus, der immer wieder auf das Neue Bedürfnisse erzeugt und im gleichen Atemzug suggeriert, dass er Kraft seiner Sendeformate eben diese Bedürfnisse stillen kann. Das Restaurant kann Gewinn erwirtschaften, die große Liebe gefunden werden, die Auswanderung vollends gelingen.
Dieser Zyklus folgt dabei den gleichen Regeln wie die kapitalistische Güterproduktion und unterliegt, Grund dessen, der selben Logik, die Karl Marx bereits 1844 in seinen ökonomisch-philosophischen Manuskripten umriss.



                                            (Der verrückte Live)


Was aber bildet die Anziehungskraft solcher Formate wie „Bauer sucht Frau“ ? Und was verraten uns solche Sendeformate, wie das ganz aktuelle „VOX“ Format „Ein Bus voller Bräute“, indem 20 Singlefrauen quer durch die Bundesrepublik fahren, um in abgelegenen Dörfern die Liebe ihres Lebens zu finden, über die mediale Konstruktion von Identität? Wie müssen Identitäten konstituiert sein, dass sie sich autonom in diesen autopoiesischen Zyklus eingliedern wollen?
In Anbetracht der obig angeführten „VOX“ Sendung „Ein Bus voller Bräute“, mit seinen Kandidatinnen, wie der 52 jährigen Iris, im realen Leben angeblich Sekretärin und Schriftstellerin und vom Auftreten her eine Art unsympathischer Ernest Hemingway in weiblich, oder der 25 jährigen Ronja, angeblich Sozialpädagogin und von ihrem äußeren Erscheinungsbild in rosa Kleidung, mit kleinem Krönchen auf dem Kopf, eine Art pervertierter Albtraum eines Disenyfilms, lässt sich mit Sicherheit schon an dieser Stelle konstatieren, dass die Anziehungskraft solcher Formate nicht rein auf die sympathische Ausstrahlung der Protagonistinnen und Protagonisten zurückzuführen ist. Auch wenn auf Seiten der ZuschauerInnen immer die perverse Lust eines Voyeurismus an der menschlichen Tragödie mitschwingt und bei solchen Formaten wie „Raus aus den Schulden“ in vielen Fällen den ausschlaggebenden Grund zum Konsum bildet.

Eine Fernsehsendung, auch wenn sie eine reale Situation abbildet, ist immer zuerst ein mediales und somit fiktives Format. Ähnlich wie ein Film oder auch nur der abendliche „Tatort“, konstruiert das Format somit Realität. Wenn auch nicht in so rein fiktionaler Form wie der Film, da bei den sogenannten „Reality-TV“ Formaten eben doch immer noch, als grundlegender Moment, ein Rest an vermeintlicher Realität besteht und den ZuschauerInnen suggeriert wird. Die filmische Montage bestimmt demzufolge nicht nur Handlung, Erzählabfolge, deren Kontingenz und Spannungsbogen, sondern auch die Identität seiner Akteure, die sich in dieser Fiktion inszenieren und zugleich durch sie inszeniert werden. Die medial repräsentierte Identität von solchen Gestalten, wie der obig erwähnten Prinzessin Ronja aus dem „Bräutebus“ oder die des Schäfers Heinrich, entstehen also nicht in einem komplexen Wechselspiel aus Fremddefinitionen und Selbstzuschreibungen, wie dies in der Realität der Fall wäre, sondern die filmische Montage zergliedert, fragmentiert und montiert das, was, als Zuschauerinnen und Zuschauer, uns letztendlich zur Illusion der Realität gereicht wird. Auch wenn die Inszenierung der Identität folgerichtig in der Realität keinen solitären Prozess abbildet, so verkommt die mediale Inszenierung von Identitäten zu einem Prozess, der mehr einer künstlerischen Auseinandersetzung mit realen Indentitätskonstruktionen gleicht, denn einer Abbildung von Realität.

Wie bereits zuvor angeführt beruht das Format des „Reality-TV“, der Name impliziert diese Herkunft bereits, immer zu einem gewissen Teil auf einem realen Fundament. Anzumerken sei jedoch hier, dass in ganz perfiden Ausformungen des Formats, es seien hier Sendungen wie das „SAT1“ Format „Verdachtsfälle“ genannt, selbst dieses Fundament illusioniert wird. Bei den meisten Sendungen aber und das ist der entscheidende Moment, sind solche Restbestände realer Momente nachweisbar. So werden Eltern, denen bei jeder noch so kleinen Gelegenheit im Sendeformat „Die Supernanny“ die Hutschnur platzt und sie dazu veranlasst, ihrem Kind ein paar bleibende Erinnerungen an seine Jugend, in Form von kleinen Aufmerksamkeiten mit der Faust, mitzugeben, auch im wahren Leben wohl kaum Befürworter einer antiautoritären Erziehung sein. Und auch so mancher Kandidatin aus der Sendung „Schwiegertochter gesucht“ ist glaubhaft abzunehmen, dass sich die Suche nach Lust und Leidenschaft, in Bezug auf das eigene Leben, durchaus schwierig gestaltet. Mal ganz davon zu schweigen, dass die meisten Menschen, mit nicht allzu stark vermindertem Denkvermögen, wohl lieber die Flucht ergreifen würden, wenn „Ein Bus voller Bräute“ jeglichen Alters und bereit zu allem in ihr Lebensumfeld einfallen würde.

Wenn aber der Soziologie Christian Steuerwald in seinem Essay „Wer bin ich? Soziologische Antworten und künstlerische Übersetzungen“ die Wahl der Kleidung, der Frisur, die Haltung und letztendlich konkrete Verhaltensweise des einzelnen Individuums als wichtigste Aspekt der äußeren Repräsentation dieses Individuums und somit der Kreation der Identität definiert, so muss in Bezug auf die mediale Repräsentation dieser Identität konstatiert werden, dass all diese Faktoren nur in stark eingeschränkter Art und Weise von den Individuen präsentiert und repräsentiert werden können. Wer weiß, ob die 25 jährige Ronja aus dem „Bus voller Bräute“ in der Realität wirklich wie ein Mutant aus dem Disney-Märchenschloss herumläuft und jedem Mann, der nicht bei drei auf den Bäumen ist, um die Arme fällt, beziehungsweise, um auf die erste Folge der Sendung einzugehen, die Trompete bläst.

Fernsehsendungen sind, dass bedingt das innere Wesen ihres Formats, immer eine Komprimierung von realer Zeit. Das eine solche Komprimierung erfolgreich sein kann, bedarf viel Zeit, so wie es bei vielen Dokumentation der Fall ist, die zum Teil über Jahre bestimmte Naturphänomene dokumentieren, um sie dann auf eine Sendezeit von 30 Minuten zu komprimieren. Das ein solch gearteter langwieriger Prozess der Dokumentation und Komprimierung aber nicht bei Sendungen funktioniert, die sich selbst als Aufgabe gesetzt haben, Menschen, die ihr ganzes Leben lang einsam und allein bei Mama und Papa gelebt haben oder 20 Singlefrauen in wenigen Wochen unter die Haube, beziehungsweise vor den Traualtar, zu befördern, ist logische Konsequenz. Es bedarf also der Strukturierung der dokumentierten Zeit, um so, schon vor Beginn der Dreharbeiten, die beabsichtigten Ergebnisse vorauszuberechnen und damit letztendlich das Gesamtkonzept des Sendeformats festzulegen. Wer also wirklich immer noch an die wahre Liebe glaubt, die solche Formate wie „Schwiegertochter gesucht“ oder „Bauer sucht Frau“ angeblich kreieren, der hört bitte an dieser Stelle mit dem Lesen dieses Essays auf und vergisst all die vorangegangenen Ausführungen.
Diese gescriptete Realität wirkt sich somit auch unmittelbar auf die präsentierte Identität der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus. Nicht mehr ihre wirkliche, reale Identität steht im Fokus dessen, was die Kamera dokumentieren soll und was die Montage letztendlich zur Sendung komprimieren soll, sondern das auf den Effekt, das Ziel der Sendung, gescriptete und vordefinierte Selbst bildet Zentrum der Dokumentation und Montage.
So ist mit an hundertprozentiger Sicherheit davon auszugehen, dass all diese Aspekte, die Steuerwald in seinem Essay als Kernelemente der Identitätskonstruktion darlegt, in den Sendungsformaten zu vorherbestimmten und vorabdefinierten Elementen verkommen, die letztendlich die Identität der ProtagonistInnen so formen, dass sie sich in die Gesamtheit des Sendeformats homogen einfügen. Wer würde auch in der Realität den ganzen Tag mit einer Glitzerplastikkrone auf dem Kopf umherlaufen und sich am Ende seiner Tage wundern, warum er so allein im Leben war?
Dieser Effekt der fremdstrukturierten und vordefinierten Identität wird zusätzlich in seiner Dokumentation durch das Medium Film, dass in seiner Qualität immer eine Abstraktion der Realität darstellt, und die anschließende Montage weiter radikalisiert. Die Montage kann so letztendlich aus den Fragmenten, die die Kamera auf Zelluloid oder das Speichermedium bannte, eine völlig eigenständige Realität und eine, in dieser Realität handelnde und sich in dieser Realität konstruierende, Identität basteln, montieren und präsentieren. Da verkommen Familienväter zu psychopathischen Kreaturen, die einem Charles Manson alle Ehre gereichen würden und heimattreue Bewohner des tiefsten Bayerns zu Epigonen eines naturverbundenen, aufrechten, ehrlichen und treuen Lebensstils auf dem Land, an denen sich alle Subjekte aus den urbanen Lebensräumen nur ein Vorbild nehmen können.

Die letztgenannten, positiv determinierten, Landbewohner bilden im Format der Sendungen die absolute Ausnahme. In der Regel sind die Charaktere Gestalten des Untergangs und ihre Geschichten sind Geschichten des Niedergangs, geprägt und gestaltet durch die defizitären Identitäten der präsentierten Individuen. Und dies ist der entscheidende Aspekt und der dominanteste Signifikant in der medialen Konstruktion der Identität: Die dargestellten Identitäten sind immer defizitär, zumeist zusätzlich stigmatisiert und repräsentieren somit immer eine Gruppe von Menschen, von denen sich die Sendung zugleich, in ihrer Präsentation, abgrenzt! Die Sendungen zeigen nicht das Normale, sondern konstruieren das Außergewöhnliche aus dem Normalen heraus. Sie beuten das von ihnen erschaffene Außergewöhnliche aus. Die Sendungen beuten die defizitäre Identität primär auf der Ebene der Kreation von Schauwerten aus, sekundär aber auch auf der Ebene der Formulierung einer regressiven Kritik, die unter Bezugnahme auf die von den defizitären Identitäten verkörperten Gruppen konstruiert wird und auf die an späterer Stelle nochmals eingegangen werden soll.
In ihrer Form der Repräsentation sind die Sendungen zugleich immer Diskriminierung der, von ihnen konstruierten, Realität, die sie in ihrem Sein ausbeuten und darstellen und, auf den konkreten Effekt zielend, der Öffentlichkeit darlegen.

Grund dieses Prozesses wählte der Titel dieser Ausführungen die Bezeichnung „Exploitation“, die ab den 1970 Jahren filmische Machwerke bezeichnete, die sich an Bildern von populären Filmen bedienten und diese für ihre Zwecke ausbeuteten. Es sei hier nur an die diversen Hexenfolterfilme oder frühen Zombiestreifen aus dem Italien der 1970er und 1980er Jahre gedacht, ebenso an die Welle von „Naziexploitationfilmen“, wie „ILSA – She wolf of the SS“ oder „Salon Kitty“. Das was das „Reality TV“ mit realen Identitäten vollzieht, ist völlig im Geiste dieser Exploitation!

Wenn die Sendung „Ein Bus voller Bräute“ uns, dieser Logik folgend, ein Bild von 20, durch das moderne, mondäne und großstädtische Leben geprägte, Frauen präsentiert, so ist dieses Bild der Moderne und seiner dominierenden städtischen Lebensform in diesem Moment der Aspekt, der das Defizitäre der Identität formt. Ihre Lebenswelt und die gewählte Lebensform hindert die Frauen ihre Bestimmung zu finden, nämlich die der wahren Liebe. Und wenn dann diesem kreierten Bild in den ersten Folgen eine scheinbare Idylle des Dorfes, bewohnt von lauter ehrbaren, aufrechten und strammen Männern, entgegengesetzt wird, dann spätestens ist der Punkt erreicht, an dem die mediale Konstruktion der Identität in eine regressive Kritik an der Moderne und am poststrukturalistischen Individuum im Allgemeinen, überführt wird. Ohne auf diese letzte Konsequenz des Sinns der medialen Kreation der defizitären Identität weiter einzugehen, sei an dieser Stelle erwähnt, dass ähnliche Ausformungen regressiver Kritik ebenso in Serien wie „Bauer sucht Frau“, in seiner Idealisierung der bäuerlichen Gemeinschaft und Arbeit oder der Sendung „Schwiegertochter gesucht“, in seiner Verklärung von familiären Strukturen, aufzuzeigen sind.

Was aber veranlasst, insbesondere in Anbetracht dieser Masse an Aspekten, die letztendlich zur völligen Aufgabe und fremdgesteuerten Transformation der eigenen Identität im Medium Fernseh führt, Menschen dazu, sich diesem Prozess zu unterwerfen?
Es ist wahrscheinlich das, was Andy Warhol vor fast 30 Jahren mit seinem Satz über die 15 Minuten Ruhm, die jedem Menschen irgendwann einmal zukommen, beschrieb. Es ist der Drang von Individuen in dieser, von den Medien geschaffenen Illusion, die das Normale zum Außergewöhnlichen, den Alltag zum Spektakel erhoben hat und dergestalt Tag um Tag auf unseren Fernsehbildschirmen inszeniert, zu partizipieren. „Reality-TV“ erschafft, nicht nur wegen seiner vollendeten Illusion einer Realität, sondern gerade wegen seiner Mittel der Konstitution den Glauben, dass es einem jeden Menschen möglich ist, an dieser Welt zu partizipieren und somit seine 15 Minuten Ruhm im wahrholschen Sinne zu erlangen.

Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben innerhalb der westlichen Zivilisationen zu einem Zwang der totalen und allumfassenden Individualisierung geführt. Es reicht nicht mehr, sich nur über seine private oder berufliche Identität zu definieren, sondern ein jeder Mensch ist dazu angehalten seine Identität zum absoluten Unikat zu formen und dergestalt zu präsentieren. Die Profile des sozialen Netzwerkes „facebook“ legen hiervon eindrucksvoll Zeugnis ab.
Es liegt im Wesen dieser postkapitalistischen Gesellschaft, im Wesen eines jeden einzelnen Individuums, immer wieder aufs neue Bedürfnisse zu erzeugen, die der unmittelbaren Befriedigung bedürfen und ohne deren Befriedigung ein Aufrechterhalten der Identität als Unmöglichkeit erscheint. Diese Erzeugung erfolgt dabei zumeist über die Illusion von Defiziten. So können unsere Autos nie schnell genug, die Häuser nie schön genug eingerichtet und die Fernseher nie zu groß sein. Die Sendungsformte des „Reality-TV“ erheben das menschliche Bedürfnis nach Individualität, in direkter Korrelation zum postkapitalistischen Produktionsprozess, zu einem Produkt, dass ebenso wie der neue LCD Fernseher oder der neue VW-Kombi, letztendlich doch nur ein Produkt des Konsums darstellt. Ein Produkt aber, dass zu Salutogenese der eigenen defizitären Identität konsumiert werden muss um diese wieder herzustellen. Und so bilden die ProtagonistInnen und Protagonisten, die ihre eigene Identität durch die tägliche Gehirnwäsche des Fernsehprogramms als defizitär empfinden und die TV-Serienformate, die augenscheinlich eine Genese von diesen Defiziten verheißen, sie aber in ihrem inneren Wesen nur produzieren und reproduzieren, eine unheimliche Allianz, die letztendlich zu einem Kreislauf führt, der sich immer wieder aufs Neue zyklisch erneuert.
Und so sollten wir uns alle nicht verwundern, wenn wir mal wieder, durch zwei gebrochene Beine bedingt, eine Woche auf dem Sofa verbringen müssen, uns in diesem Moment dann wieder solche Charaktere wie Ronja aus dem „Bus voller Bräute“, Beate aus „Schwiegertochter gesucht“ oder Schäfer Heinrich aus „Bauer gesucht“ bei Peter Zwegat wiederbegegnen. Oder vielleicht dabei beobachtet werden können, wie alle zusammen eine Imbissbude in Eisleben betreiben, die gerade von irgendeinem Resturantester überprüft wird.
Der autopoisische Charakter des „Reality-TV“, der in seinem inneren Wesen der kontinuierlichen und nicht endenwollenden Exploitation defizitärer Identitäten bedarf, um immer wieder auf das Neue Bedürfnisse zu erschaffen, wird uns an dieser Stelle sicherlich nicht enttäuschen.


Quellen:

Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main, 1988

Marx, Karl: Ökonomisch-philosophisch Manuskripte. (1844; Auszüge), in: Fischer, Iring: Karl Marx. Das große Lesebuch, Frankfurt am Main, 2008

Steuerwald, Christian: Wer bin ich? Soziologische Antworten und künstlerische Übersetzungen, in: Schader-Stifung; Hessisches Landesmuseum Darmstadt (Hrsg.): Ansichten des Ich. Bilder gesellschaftlichen Wandels 10, Darmstadt, 2011

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen