Samstag, 12. Oktober 2013

AIDS-nur ein Problem in „Drittweltländern“?


Ein Gastbeitrag von Marlen Sommer:



I just think that the premise of discussion of HIV status is ridiculous in the context of a dark, slippery sexual situation. My assumption was, it's the year 2000. He wasn't mentally challenged. He did not have a learning disability. He seemed pretty normal. He wasn't a fresh 18-year-old off the farm. He was a middle-aged, decent-looking, healthy guy. So if he's wanting me to penetrate him without a condom, I'm assuming that he's positive himself, because a lot of people who are positive like to get fucked without a condom.“1


Die, im Zitat von einem jungen Mann geschilderte Sexualpraktik, namens „Bareback“, bezeichnet den ungeschützten Verkehr homosexueller Männer, bei dem eine bewusste Entscheidung gegen den „Safer Sex“ getroffen wird und damit das Risiko einer Ansteckung mit dem HIV-Virus in Kauf genommen wird.
In einem Zeitraum von nicht einmal 15 Jahren hat der Begriff und die, mit ihm bezeichnete Sexualpraktik ihren Weg aus den dunklen, subkulturell determinierten, US-Darkrooms in den amerikanischen und europäischen Mainstream gefunden.
Der Gedanke, dass Barebacking eine „etwas verwirrte Einzelmeinung“ und Praktik einiger weniger homosexueller Männer darstellt, ist, in Anbetracht der Masse an Praktizierenden, schlicht und ergreifend falsch.
Einen ersten Eindruck vermittelt hierbei die mediale Vermittlung von Barebackpornografie: Pornografische Filme mit homosexuellen Praktiken, in denen eben kein Safer-Sex praktiziert wird, schaffen es in Europa auf einen Marktanteil von 60%! In Filmen mit heterosexuellen Inhalten ist die Rate von Safer-Sex sogar nochmals deutlich niedriger, beziehungsweise bildet er hier, um genauer zu sein, eher die Ausnahme der ungeschützten Regeln.
Nachdem in den 1980er die „Entdeckung“ von AIDS zu einem starken Umdenken in Bezug auf Verhütung beim sexuellen Verkehr, gerade unter homosexuellen Partnern, führte, ist seit einigen Jahren nun eine dimetrale Bewegung im Gange: AIDS wird nicht mehr als die todbringende Erkrankung angesehen, sondern vielmehr als ein Moment des thanatorischen Nervenkitzels im sexuellen Akt.2
Das das Thema „Bareback-Sex“ bei Weitem kein Randgruppenthema mehr ist, lässt sich nicht zuletzt aber auch daran erkennen, dass bekannte Zeitungen, wie zum Beispiel „Die Zeit“ mit Artikeln wie zum Beispiel „Sex auf Leben und Tod“, zu dieser Thematik schon vor Jahren Stellung bezogen haben.3

Barebacking ist längst nicht mehr nur in der Szene, in welcher sich dezidiert homosexuelle Männer bewegen, als ein abstraktes Phänomen anzusehen, was sich gerade daran messen lässt, dass sich einstige subkulturelle soziale Codes, wie der des „Hanky Codes“, in eben dieser Szene und weit über sie hinaus, etabliert haben. Der Hanky Code, zu deutsch: der Taschentuch Code, bezeichnet eine Methode, auf deren Wege Männer in der Lage sind sich gegenseitig auf der Straße, in Bars, Clubs oder Parks erkennen können, und mit der Farbe, als auch der Lage (rechts oder links) Auskunft über die eigenen sexuellen Interessen preisgeben4. Die Vorliebe für die Sexualpraktik des Bareback wird hierbei durch eine eigene Farbkombination, blau und weiß, signalisiert. Ob das Tuch auffallend rechts oder links, zum Beispiel in der Hosentasche, getragen wird, spielt bei dieser Praktik keine Rolle5. Die Zuordnung rechts/links gibt hierbei immer über eine dichotome Verortung, wie aktiv/passiv, sub/top usw., Auskunft. Ebenso gibt es für die Praktik des Safer-Sex eine eigne Farbordnung, schwarz-weiß kariert.

Obwohl geschätzte Marktanteile von 60% „Bareback-Pornographie“, Geschichten von HIV-Infektionen während Pornodrehs6 oder auf Sexpartys und farbige Codezies, die über Taschentücher vermittelt werden, wie dystopische Anekdoten aus einem unbekannten Universum anmuten, präsentieren sie in ihrem Kern eine traurige und zumeist tödliche Wahrheit: Die Rezeption von AIDS als Krankheit, die Gefahren der Ansteckung und die Folgen einer Infektion haben sich innerhalb der letzten Jahre radikal verändert.
Eine Veränderung die aus zweierlei Gründen, von solch hoher Bedeutung ist. Zum Einen, da sie sich nicht in irgendeinem entfernen und als „Entwicklungsland“ degradierten Land vollzog, sondern mitten in unsrer Gesellschaft, in der doch der Konsens immer der ist, bzw. eher war, dass die Konsequenzen von AIDS als Allgemeinbildung anzusehen sind. Zum Anderen, weil sie sich, wie im Folgenden dargestellt wird, in ihrer konstituierenden Logik vollends gegen die vorherrschende Logik der Prävention richtet und damit, letztendlich, ein Phänomen abbildet, dass gerade wegen seiner Logik des paradoxen besonderer und intensivierter Betrachtung bedarf.
Laut WHO (Weltgesundheitsorganisation) sind die Zahlen der HIV-Neuinfektionen in den Europäischen Regionen steigend. Über 121.000 neue HIV-Diagnosen wurden 2011 aus Europäischen Regionen gemeldet. Schätzungen allerdings besagen, dass die Zahl der tatsächlichen Neuinfektionen im selbigen Jahr bereits bei über 170.000 lag.
Insgesamt ist hierbei von mehr als 2,3 Millionen HIV-Infizierten die Rede. Als am stärksten Betroffene gelten laut WHO „gefährdete“ und „ausgegrenzte“ Bevölkerungsgruppen. Hier werden neben der Gruppe der Männer mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten, auch die der injizierenden DrogenkonsumentInnen, SexarbeiterInnen, Häftlinge und MigrantInnen genannt. AIDS wurde in den Ländern Westeuropas am häufigsten bei Männern mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten diagnostiziert7.

In Rekapitualtion zur sexuellen Praktik des Bareback-Sex muss hieraus wiederum folgen, dass trotz des Wissens um die Ansteckungsmöglichkeiten und die nicht zu unterschätzenden Konsequenzen, welche dieses Krankheitsbild mit sich bringt, die obig angesprochenen Gruppen und Andere, diese Gesundheitlichen Risiken bewusst in Kauf nehmen. Im Besonderen eben jene Männer mit dominierend und ausschließlich gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten.
Dieses Verhalten zeugt von einem Prozess der Identitätsbildung, der seinen dominierenden Moment der Konstitution aus einem Moment des bewussten Vergessens gesellschaftlich geteilter Wissensbestände speist8.
Wenn davon ausgegangen wird, dass Handlungen zugleich immer auch Sinn erzeugen, dann muss, in Bezugnahme auf die Präventivpolitik diverser Organisationen9, davon ausgegangen werden, dass in Bezug auf die Wirksamkeit von Präventionsarbeit immer noch dominierend eine Annahme die Richtlinie definiert, nämlich die, das durch Aufklärung, im Sinne von Wissen über einen bestimmten Tatbestand, eine Änderung im Handeln erreicht werden kann.
In Bezug auf die, in diesem Essay verhandelte, Problematik bedeutet dies wiederum, dass ein Glauben vorherrscht, der davon ausgeht, dass das Handeln, also der Sex ohne Verhütung und die, damit einhergehende, Gefahr der Infektion, sich dadurch bekämpfen lässt, indem über dessen, zum Teil tödliche, Konsequenzen unterrichtet wird.

Der Akt des Bareback Sex ist deswegen, ganz im Sinne Erika Fischer-Lichtes10, als ein performativer Akt anzusehen, der einer dualistischen Funktion unterliegt. Er generiert Gemeinschaft über den Akt selbst und den Prozess des aktiven Vergessen/s (wollens). Der sexuelle Akt, ohne Kondom, der die Gefahr einer Ansteckung aktiv negiert und die Person damit in die Gemeinschaft derjenigen, die die Gefahr vergessen, initiiert. Zugleich aber formt dieser passiv nihilistische Akt, ganz im Sinne Alain Badious11, eine makrokosmische Dimension ab, die sich dezidiert gegen die gesellschaftliche Ordnung richtet. Der Akt des Bareback ist somit letztendlich nicht nur individueller Nervenkitzel, sondern Moment, indem die, von der Gesellschaft dem Individuum aufgezwungene, Andersartigkeit aktiv gelebt und in einer, wenn auch extrem gefährlichen Art, gegen die Gesellschaft selbst gerichtet wird. Das Klischee und die diskriminierende Zuschreibung des dekadenten Homosexuellen, auf den selbst „Die Zeit“ in ihrem, bereits erwähnten Artikel mit dem Untertitel „Bareback-Partys sind der letzte Kick unter Schwulen-ein Zeichen von Hoffnungslosigkeit und Dekadenz“ Bezug nimmt, wird hierbei aus seiner Dimension der symbolischen Zuschreibung gerissen und zum Moment der real-physischen Gruppenkonstitution. Der Akt selbst aber speist seinen Moment der Dekadenz nicht aus dem Moment der Gefahr, denn mehr in der, hier Jean Baudrillard folgend12, der Reintegration des Todes und der Verletzbarkeit des eigenen und des fremden Körpers. Die letzten Bastionen der westlichen Tabuisierung.

Am Ende dieses Essays muss deshalb festgehalten werden, dass der Bareback Akt, gerade im Moment seiner performativ immanenten Singerzeugung, ein Akt ist, der nicht mit den, gesellschaftlich vorherrschenden, Kategorien der Prävention erfasst und erklärt werden kann. Der Akt selbst ist es, der den grundlegenden Moment unsrer gesellschaftlichen Konstitution negiert, nämlich die Anwendung menschlicher Ratio und stattdessen einem Moment des bewussten Vergessens und der bewussten Negation frönt.
Ein Akt der seine Wucht nicht nur auf der soziologischen Ebene der Gruppenkonstitution entfaltet, sondern, und dies wiegt hierbei viel schwerer, gerade auch in Bezug auf das Leben vieler individueller Menschen, die mit dem Vollzug des Bareback-Aktes bewusst den eigenen Tod zum Moment ihrer Subjektgenese generieren.

Sie mögen ihre Zeichen den geschundenen Körpern einbrennen, letztendlich stehen ihre Zerstörungen doch für sich.“13



Marlen Sommer



Quellen


Baudrillard, Jean: Der Geist der Terrorismus, Wien, 2003, S.19-20.

Berking, Helmut: Kulturelle Identitäten und kulturelle Differenz im Kontext von Globalisierung und Fragmentierung, in: Loch, Dietmar; Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Schattenscheiten der Globalisierung. Rechtsradikalismus, Rechtspopulismus und separatistischer Regionalismus in westlichen Demokratien, Frankfurt am Main, 2001

Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativem, Frankfurt am Main, 2004, S. 19-20.

Pluth, Ed: Badiou. A Philosophy Of The New, Cambridge, 2010

Stiglegger, Marcus: Begleitheft zu „Die 120 Tage von Sodom“, veröffentlicht in: Die 120 Tage von Sodom, Kino Kontrovers. Legend Films, DVD.
1Interwievpassage eines anonymen Barebackers. Zit.n.: „Glenn Gaylord“ from AIDS Project Los Angeles (2000), auf: www.thebody.com, einzusehen unter: http://www.thebody.com/content/art32638.html.Letzter Zugriff am 28.05.2013 um 8:46 Uhr.
2Vgl. Klein, Dennis (2008), Bareback-Skandal in Englands Porno-Szene, auf: www.queer.de, einzusehen unter: http://www.queer.de/detail.php?article_id=8396. Letzter Zugriff am 28.05.2013 um 8:46 Uhr.
3Joop, Wolfgang (2004), auf: www.zeit.de, einzusehen unter: http://www.zeit.de/2004/49/aids-Joop. Letzter Zugriff am 28.05.2013 um 8:46 Uhr.
4Lewis Chris (2010), auf: www.odps.org, einzusehen unter: http://www.odps.org/glossword/index.php?a=term&d=8&t=7363. Letzter Zugriff am 28.05.2013 um 18:30 Uhr.
5berlin.gay-web.de (Hrsg.) (2010), auf: http://web.archive.org, einzusehen unter: http://web.archive.org/web/20100604045133/http://berlin.gay-web.de/kontakte/index_hankys.shtml. Letzter Zugriff am 28.05.2013 um 19:00 Uhr.
6Interwiev eines anonymen Barebackers. Vgl.: „Glenn Gaylord“ from AIDS Project Los Angeles (2000), auf: www.thebody.com, einzusehen unter: http://www.thebody.com/content/art32638.html. Letzter Letzter Zugriff am 28.05.2013 um 8:46 Uhr.
7Vgl. WHO (Hrsg.) (2012), auf: http://www.euro.who.int, einzusehen unter: http://www.euro.who.int/de/what-we-do/health-topics/communicable-diseases/hivaids/news/news/2012/11/hiv-rising-in-europe. Letzter Zugriff am 28.05.2013 um 18:45 Uhr.
8Vgl. Berking, Helmut: Kulturelle Identitäten und kulturelle Differenz im Kontext von Globalisierung und Fragmentierung, in: Loch, Dietmar; Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Schattenscheiten der Globalisierung. Rechtsradikalismus, Rechtspopulismus und separatistischer Regionalismus in westlichen Demokratien, Frankfurt am Main, 2001
9Vgl. z.B. die ausführliche Kategorie „Sich schützen“ der Deutschen AIDS Hilfe, einzusehen unter: http://www.aidshilfe.de/de/sich-schuetzen oder die Seite http://www.aids.org/, die in ihrem Untertitel „Information, Education and Action“ dirket die Triangulation von Wissen und einem hieraus resultierenden Handeln suggeriert. Letzter Zugriff auf beide Quellen am 28.05.2013 um 8:58 Uhr.
10Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativem, Frankfurt am Main, 2014. S. 82.
11Vgl. Pluth, Ed: Badiou. A Philosophy Of The New, Cambridge, 2010
12Vgl. Baudrillard, Jean: Der Geist der Terrorismus, Wien, 2003. S.19-20.

13Stiglegger, Marcus: Begleitheft zu „Die 120 Tage von Sodom“, veröffentlicht in: Die 120 Tage von Sodom, Kino Kontrovers. Legend Films, DVD.

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