Ein Gastbeitrag von Marlen Sommer:
„I just think that the premise of discussion of HIV status is ridiculous in the context of a dark, slippery sexual situation. My assumption was, it's the year 2000. He wasn't mentally challenged. He did not have a learning disability. He seemed pretty normal. He wasn't a fresh 18-year-old off the farm. He was a middle-aged, decent-looking, healthy guy. So if he's wanting me to penetrate him without a condom, I'm assuming that he's positive himself, because a lot of people who are positive like to get fucked without a condom.“1
Die,
im Zitat von einem jungen Mann geschilderte Sexualpraktik, namens
„Bareback“, bezeichnet den ungeschützten Verkehr homosexueller
Männer, bei dem eine bewusste Entscheidung gegen den „Safer Sex“
getroffen wird und damit das Risiko einer Ansteckung mit dem
HIV-Virus in Kauf genommen wird.
In
einem Zeitraum von nicht einmal 15 Jahren hat der Begriff und die,
mit ihm bezeichnete Sexualpraktik ihren Weg aus den dunklen,
subkulturell determinierten, US-Darkrooms in den amerikanischen und
europäischen Mainstream gefunden.
Der
Gedanke, dass Barebacking eine „etwas verwirrte Einzelmeinung“
und Praktik einiger weniger homosexueller Männer darstellt, ist, in
Anbetracht der Masse an Praktizierenden, schlicht und ergreifend
falsch.
Einen
ersten Eindruck vermittelt hierbei die mediale Vermittlung von
Barebackpornografie: Pornografische Filme mit homosexuellen
Praktiken, in denen eben kein Safer-Sex praktiziert wird, schaffen es
in Europa auf einen Marktanteil von 60%! In Filmen mit
heterosexuellen Inhalten ist die Rate von Safer-Sex sogar nochmals
deutlich niedriger, beziehungsweise bildet er hier, um genauer zu
sein, eher die Ausnahme der ungeschützten Regeln.
Nachdem
in den 1980er die „Entdeckung“ von AIDS zu einem starken Umdenken
in Bezug auf Verhütung beim sexuellen Verkehr, gerade unter
homosexuellen Partnern, führte, ist seit einigen Jahren nun eine
dimetrale Bewegung im Gange: AIDS wird nicht mehr als die
todbringende Erkrankung angesehen, sondern vielmehr als ein Moment
des thanatorischen Nervenkitzels im sexuellen Akt.2
Das
das Thema „Bareback-Sex“ bei Weitem kein Randgruppenthema mehr
ist, lässt sich nicht zuletzt aber auch daran erkennen, dass
bekannte Zeitungen, wie zum Beispiel „Die Zeit“ mit Artikeln wie
zum Beispiel „Sex auf Leben und Tod“, zu dieser Thematik schon
vor Jahren Stellung bezogen haben.3
Barebacking
ist längst nicht mehr nur in der Szene, in welcher sich dezidiert
homosexuelle Männer bewegen, als ein abstraktes Phänomen anzusehen,
was sich gerade daran messen lässt, dass sich einstige subkulturelle
soziale Codes, wie der des „Hanky Codes“, in eben dieser Szene
und weit über sie hinaus, etabliert haben. Der Hanky Code, zu
deutsch: der Taschentuch Code, bezeichnet eine Methode, auf deren
Wege Männer in der Lage sind sich gegenseitig auf der Straße, in
Bars, Clubs oder Parks erkennen können, und mit der Farbe, als auch
der Lage (rechts oder links) Auskunft über die eigenen sexuellen
Interessen preisgeben4.
Die Vorliebe für die Sexualpraktik des Bareback wird hierbei durch
eine eigene Farbkombination, blau und weiß, signalisiert. Ob das
Tuch auffallend rechts oder links, zum Beispiel in der Hosentasche,
getragen wird, spielt bei dieser Praktik keine Rolle5.
Die Zuordnung rechts/links gibt hierbei immer über eine dichotome
Verortung, wie aktiv/passiv, sub/top usw., Auskunft. Ebenso gibt es
für die Praktik des Safer-Sex eine eigne Farbordnung, schwarz-weiß
kariert.
Obwohl
geschätzte Marktanteile von 60% „Bareback-Pornographie“,
Geschichten von HIV-Infektionen während Pornodrehs6
oder auf Sexpartys und farbige Codezies, die über Taschentücher
vermittelt werden, wie dystopische Anekdoten aus einem unbekannten
Universum anmuten, präsentieren sie in ihrem Kern eine traurige und
zumeist tödliche Wahrheit: Die Rezeption von AIDS als Krankheit, die
Gefahren der Ansteckung und die Folgen einer Infektion haben sich
innerhalb der letzten Jahre radikal verändert.
Eine
Veränderung die aus zweierlei Gründen, von solch hoher Bedeutung
ist. Zum Einen, da sie sich nicht in irgendeinem entfernen und als
„Entwicklungsland“ degradierten Land vollzog, sondern mitten in
unsrer Gesellschaft, in der doch der Konsens immer der ist, bzw. eher
war, dass die Konsequenzen von AIDS als Allgemeinbildung anzusehen
sind. Zum Anderen, weil sie sich, wie im Folgenden dargestellt wird,
in ihrer konstituierenden Logik vollends gegen die vorherrschende
Logik der Prävention richtet und damit, letztendlich, ein Phänomen
abbildet, dass gerade wegen seiner Logik des paradoxen besonderer und
intensivierter Betrachtung bedarf.
Laut
WHO (Weltgesundheitsorganisation) sind die Zahlen der
HIV-Neuinfektionen in den Europäischen Regionen steigend. Über
121.000 neue HIV-Diagnosen wurden 2011 aus Europäischen Regionen
gemeldet. Schätzungen allerdings besagen, dass die Zahl der
tatsächlichen Neuinfektionen im selbigen Jahr bereits bei über
170.000 lag.
Insgesamt
ist hierbei von mehr als 2,3 Millionen HIV-Infizierten die Rede. Als
am stärksten Betroffene gelten laut WHO „gefährdete“ und
„ausgegrenzte“ Bevölkerungsgruppen. Hier werden neben der Gruppe
der Männer mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten, auch die der
injizierenden DrogenkonsumentInnen, SexarbeiterInnen, Häftlinge und
MigrantInnen genannt. AIDS wurde in den Ländern Westeuropas am
häufigsten bei Männern mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten
diagnostiziert7.
In
Rekapitualtion zur sexuellen Praktik des Bareback-Sex muss hieraus
wiederum folgen, dass trotz des Wissens um die
Ansteckungsmöglichkeiten und die nicht zu unterschätzenden
Konsequenzen, welche dieses Krankheitsbild mit sich bringt, die obig
angesprochenen Gruppen und Andere, diese Gesundheitlichen Risiken
bewusst in Kauf nehmen. Im Besonderen eben jene Männer mit
dominierend und ausschließlich gleichgeschlechtlichen
Sexualkontakten.
Dieses
Verhalten zeugt von einem Prozess der Identitätsbildung, der seinen
dominierenden Moment der Konstitution aus einem Moment des bewussten
Vergessens gesellschaftlich geteilter Wissensbestände speist8.
Wenn
davon ausgegangen wird, dass Handlungen zugleich immer auch Sinn
erzeugen, dann muss, in Bezugnahme auf die Präventivpolitik diverser
Organisationen9,
davon ausgegangen werden, dass in Bezug auf die Wirksamkeit von
Präventionsarbeit immer noch dominierend eine Annahme die Richtlinie
definiert, nämlich die, das durch Aufklärung, im Sinne von Wissen
über einen bestimmten Tatbestand, eine Änderung im Handeln erreicht
werden kann.
In
Bezug auf die, in diesem Essay verhandelte, Problematik bedeutet dies
wiederum, dass ein Glauben vorherrscht, der davon ausgeht, dass das
Handeln, also der Sex ohne Verhütung und die, damit einhergehende,
Gefahr der Infektion, sich dadurch bekämpfen lässt, indem über
dessen, zum Teil tödliche, Konsequenzen unterrichtet wird.
Der
Akt des Bareback Sex ist deswegen, ganz im Sinne Erika
Fischer-Lichtes10,
als ein performativer Akt anzusehen, der einer dualistischen Funktion
unterliegt. Er generiert Gemeinschaft über den Akt selbst und den
Prozess des aktiven Vergessen/s (wollens). Der sexuelle Akt, ohne
Kondom, der die Gefahr einer Ansteckung aktiv negiert und die Person
damit in die Gemeinschaft derjenigen, die die Gefahr vergessen,
initiiert. Zugleich aber formt dieser passiv nihilistische Akt, ganz
im Sinne Alain Badious11,
eine makrokosmische Dimension ab, die sich dezidiert gegen die
gesellschaftliche Ordnung richtet. Der Akt des Bareback ist somit
letztendlich nicht nur individueller Nervenkitzel, sondern Moment,
indem die, von der Gesellschaft dem Individuum aufgezwungene,
Andersartigkeit aktiv gelebt und in einer, wenn auch extrem
gefährlichen Art, gegen die Gesellschaft selbst gerichtet wird. Das
Klischee und die diskriminierende Zuschreibung des dekadenten
Homosexuellen, auf den selbst „Die Zeit“ in ihrem, bereits
erwähnten Artikel mit dem Untertitel „Bareback-Partys sind der
letzte Kick unter Schwulen-ein Zeichen von Hoffnungslosigkeit und
Dekadenz“ Bezug nimmt, wird hierbei aus seiner Dimension der
symbolischen Zuschreibung gerissen und zum Moment der real-physischen
Gruppenkonstitution. Der Akt selbst aber speist seinen Moment der
Dekadenz nicht aus dem Moment der Gefahr, denn mehr in der, hier Jean
Baudrillard folgend12,
der Reintegration des Todes und der Verletzbarkeit des eigenen und
des fremden Körpers. Die letzten Bastionen der westlichen
Tabuisierung.
Am
Ende dieses Essays muss deshalb festgehalten werden, dass der
Bareback Akt, gerade im Moment seiner performativ immanenten
Singerzeugung, ein Akt ist, der nicht mit den, gesellschaftlich
vorherrschenden, Kategorien der Prävention erfasst und erklärt
werden kann. Der Akt selbst ist es, der den grundlegenden Moment
unsrer gesellschaftlichen Konstitution negiert, nämlich die
Anwendung menschlicher Ratio und stattdessen einem Moment des
bewussten Vergessens und der bewussten Negation frönt.
Ein
Akt der seine Wucht nicht nur auf der soziologischen Ebene der
Gruppenkonstitution entfaltet, sondern, und dies wiegt hierbei viel
schwerer, gerade auch in Bezug auf das Leben vieler individueller
Menschen, die mit dem Vollzug des Bareback-Aktes bewusst den eigenen
Tod zum Moment ihrer Subjektgenese generieren.
„Sie
mögen ihre Zeichen den geschundenen Körpern einbrennen,
letztendlich stehen ihre Zerstörungen doch für sich.“13
Marlen Sommer
Quellen
Baudrillard,
Jean: Der Geist der Terrorismus, Wien, 2003, S.19-20.
Berking,
Helmut: Kulturelle Identitäten und kulturelle Differenz im Kontext
von Globalisierung und Fragmentierung, in: Loch, Dietmar; Heitmeyer,
Wilhelm (Hrsg.): Schattenscheiten der Globalisierung.
Rechtsradikalismus, Rechtspopulismus und separatistischer
Regionalismus in westlichen Demokratien, Frankfurt am Main, 2001
Fischer-Lichte,
Erika: Ästhetik des Performativem, Frankfurt am Main, 2004, S.
19-20.
Pluth,
Ed: Badiou. A Philosophy Of The New, Cambridge, 2010
Stiglegger,
Marcus: Begleitheft zu „Die 120 Tage von Sodom“, veröffentlicht
in: Die 120 Tage von Sodom, Kino Kontrovers. Legend Films, DVD.
1Interwievpassage
eines anonymen Barebackers.
Zit.n.: „Glenn
Gaylord“ from AIDS
Project Los Angeles (2000), auf: www.thebody.com,
einzusehen unter:
http://www.thebody.com/content/art32638.html.Letzter
Zugriff am 28.05.2013 um 8:46 Uhr.
2Vgl.
Klein, Dennis
(2008), Bareback-Skandal
in Englands Porno-Szene, auf: www.queer.de, einzusehen unter:
http://www.queer.de/detail.php?article_id=8396.
Letzter
Zugriff am 28.05.2013 um 8:46 Uhr.
3Joop,
Wolfgang (2004), auf: www.zeit.de, einzusehen unter:
http://www.zeit.de/2004/49/aids-Joop.
Letzter
Zugriff am 28.05.2013 um 8:46 Uhr.
4Lewis
Chris (2010), auf: www.odps.org, einzusehen unter:
http://www.odps.org/glossword/index.php?a=term&d=8&t=7363.
Letzter Zugriff am 28.05.2013 um 18:30 Uhr.
5berlin.gay-web.de
(Hrsg.) (2010), auf: http://web.archive.org,
einzusehen unter:
http://web.archive.org/web/20100604045133/http://berlin.gay-web.de/kontakte/index_hankys.shtml.
Letzter Zugriff am 28.05.2013 um 19:00 Uhr.
6Interwiev
eines anonymen Barebackers. Vgl.: „Glenn Gaylord“ from AIDS
Project Los Angeles (2000), auf: www.thebody.com,
einzusehen unter: http://www.thebody.com/content/art32638.html.
Letzter Letzter Zugriff am 28.05.2013 um 8:46 Uhr.
7Vgl.
WHO (Hrsg.) (2012), auf: http://www.euro.who.int, einzusehen unter:
http://www.euro.who.int/de/what-we-do/health-topics/communicable-diseases/hivaids/news/news/2012/11/hiv-rising-in-europe.
Letzter
Zugriff am 28.05.2013 um 18:45 Uhr.
8Vgl.
Berking, Helmut: Kulturelle Identitäten und kulturelle Differenz im
Kontext von Globalisierung und Fragmentierung, in: Loch, Dietmar;
Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Schattenscheiten der Globalisierung.
Rechtsradikalismus, Rechtspopulismus und separatistischer
Regionalismus in westlichen Demokratien, Frankfurt am Main, 2001
9Vgl.
z.B. die ausführliche Kategorie „Sich schützen“ der Deutschen
AIDS Hilfe, einzusehen unter:
http://www.aidshilfe.de/de/sich-schuetzen
oder die Seite http://www.aids.org/,
die in ihrem Untertitel „Information, Education and Action“
dirket die Triangulation von Wissen und einem hieraus resultierenden
Handeln suggeriert. Letzter Zugriff auf beide Quellen am 28.05.2013
um 8:58 Uhr.
10Fischer-Lichte,
Erika: Ästhetik des Performativem, Frankfurt am Main, 2014. S. 82.
11Vgl.
Pluth, Ed: Badiou. A Philosophy Of The New, Cambridge, 2010
12Vgl.
Baudrillard, Jean: Der Geist der Terrorismus, Wien, 2003.
S.19-20.
13Stiglegger,
Marcus: Begleitheft zu „Die 120 Tage von Sodom“, veröffentlicht
in: Die 120 Tage von Sodom, Kino Kontrovers. Legend Films, DVD.
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