Freitag, 23. März 2012

Gedanken zum kulturindustriellen Wandel des Ausnahmezustandes in der seriellen Produktion

We need a hero! Oder auch zwei!
Gedanken zum kulturindustriellen Wandel
des Ausnahmezustandes in der seriellen Produktion




„Where have all the good men gone
And where are all the gods?
Where's the street-wise Hercules
To fight the rising odds?
Isn't there a white knight upon a fiery steed?
Late at night I toss and turn and dream
of what I need“1

Als Bonnie Tyler die obigen Zeilen in ihrem 80iger Jahre Hit „Holding out for a hero“ trällerte, so geschah dies, mit aller Wahrscheinlichkeit, im Unwissen darüber, dass eben diese Zeilen sich über zwei Jahrzehnte später zur inhaltlichen Zusammenfassung fast aller aktuellen us-amerikanischen Serienformate eignen würde. Völlig davon abgesehen, dass der ästhetische Retrotrend, der die vergangenen Jahre dominierte und in seiner Fokussierung sich maßgeblich an einem imaginierten homogenen Stil der 1980er Jahre orientierte und immer noch orientiert, einen solchen Rückgriff auf das Bonnie Tyler Stück auch von rein ästhetischer Seite aus ermöglichen würde.

Innerhalb der letzten Jahre haben sich viele Gesellschaften, insbesondere die Amerikanische und die der europäischen Union in einem rasanten Tempo verändert. Und es seien an dieser Stelle die extremen Entwicklungen in Ländern wie China, Russland oder Indien völlig ignoriert.
Diesen Trend der rasanten Veränderungen aufgreifend und vom Willen beseelt, einen gesellschaftsübergreifenden Terminus zu formen und zu diskutieren, titelte das Magazin „Bahamas“ im Frühjahr 2009: „Die Sehnsucht nach dem Ausnahmezustand“. In gleichem Unwissen über ihr Handeln, wie Bonnie Tyler anno 1980, ahnten auch die Redakteure der Zeitschrift „Bahamas“ im Jahr 2009, also gute drei Jahre vor dem Niederschrieb dieses Artikels, sicherlich nicht, dass ihr Terminus des Ausnahmezustandes nicht nur als Titel für die damalige Ausgabe taugte, sondern, dass der Begriff des „Ausnahmezustands“ eigentlich den Terminus schlechthin abbildet, der viele Gesellschaften und deren Handeln, bis zum jetzigen Zeitpunkt treffend beschreiben kann. Der Ausnahmezustand, die Headline des Postkapitalismus.
Der Ausnahmezustand ist überall allgegenwärtig und das nicht erst seit 2009. Jeden Tag erreicht uns eine solche Masse von Nachrichten über die diversen Ausnahmezustände, so das wir diese Nachrichten, einerseits, nicht nur schneller als den letzten, schlechten, wöchentlichen „Tatort“ vergessen, anderseits aber die Flut von Ausnahmezustände nicht mehr als besondere und in ihrer Form einzigartige Ereignisse begreifen, sondern sie als gesellschaftlichen Normalzustand akzeptieren und rezipieren.
Diese Art der gesellschaftlichen Rezeption wird besonders auffällig in Anbetracht des Inhaltsverzeichnis der, obig bereits erwähnten, „Bahamas“ Ausgabe aus dem Jahr 2009. Auf der einen Seite finden sich hier Themen, die Ausnahmezustände beschreiben und diskutieren, die längst aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden sind: Kaukasuskrieg 2008? Ach ja, da war ja was! Auf der anderen Seite und diese Seite überwiegt die erste quantitativ, finden sich aber diverse Themen, die so in ihrer Form der aktuellen Tagespresse aus dem Jahr 2012 entstammen könnten: Die USA diskutieren eine neue Strategie gegen die Taliban ? Ach ja, der Krieg gegen den Terror läuft nun ja auch schon über zehn Jahre!
Auch im Jahr 2012 lässt sich diese Reihe der Ausnahmezustände in unendlicher Anzahl fortsetzten: Bundespräsidenten kommen und gehen, mal wegen kritischen Anmerkungen zur Bundeswehr, mal wegen kritischer Privaturlaube. Ebenso kommt und geht die Zahlungsfähigkeit von Ländern der europäischen Union, von dem Kommen und Gehen der Soldaten und bewaffneten Entwicklungshelfern, deren Einsatzorte zur Bekämpfung des Ausnahmezustandes sich fast täglich ändern, mal ganz zu schweigen. Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Der gesellschaftliche Ausnahmezustand hat sich längst als gesellschaftlicher permanenter Normalzustand etabliert.
Das sich dieser Wandel auch in der Kulturindustrie niederschlägt, muss, unter Berücksichtigung der Bedeutung der Kulturindustrie und ihrer Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen Umständen, die sie produziert und zugleich reproduziert, als logisch angesehen werden. Für diese Feststellung bedarf es dann noch nicht einmal einer „Dialektik der Aufklärung“, sondern nur eines Fernsehapparates, der dazugehörigen Fernbedienung und einem kurzem Rundgang durch die allabendliche TV-Serienlandschaft. Ohne direkt der negativen Dialektik eines Theodor W. Adorno zu folgen, kann diese Wechselwirkung zuerst einmal völlig wertfrei konstatiert werden.
Einen besonderen Stellenwert innerhalb dieser Produktion von Kulturgütern und der obige Verweis auf die aktuellen TV-Serien deutete diesen Umstand bereits an, muss hierbei der Produktion von Serien zuerkannt werden. Nicht nur weil diese, von ihren Produktionskosten und ihrem Stellenwert in der gesamtgesellschaftlichen Rezeption, mittlerweile sich dem Kino ebenbürtig gestalten, sondern gerade auch deswegen, weil sie, durch ihr inneres Wesen bedingt, als ein direkter Spiegel und Kommulationspunkt der Gesellschaften, der sie entspringen, angesehen werden müssen.
Und so ist es der Moment des gesellschaftlichen Ausnahmezustandes der, der in vielen Serien sowohl grundlegend die Thematik definiert, als auch der, der aus seinem Wesen heraus, das Handeln und Agieren aller Akteure und Akteurinnen bestimmt.
So unterwirft sich die Frauenclique in der HBO Erfolgsserie „Sex and City“ zwang- und wahnhaft immer wieder den neusten Trends der Schuh-, Taschen- und Vibratorenmode. Immer im Wissen darum, dass nur durch diesen Konsumismus ihre Milieuinklusiuon aufrecht erhalten werden kann. Das dieser, sich zyklisch wiederholende, Versuch der Inklusion letztendlich nur das zwanghafte und systembedingte Scheitern der individuellen Vergesellschaftung in einer Umgebung, die eben diese Vergesellschaftung auf einen Prozess der Warenakquise reduziert hat, thematisierte interessierte aber das Hauptklientel der Serie wahrscheinlich eher weniger. Anders ist es nicht zu erklären, warum das Wissen um Markenschuhe und die neusten oralen Sexualtechniken für Frauen mittleren Alters mittlerweile als Allgemeinbildung, quer durch alle Gesellschaftlichen Milieus, gelten.
Ähnlich verhält es sich in der Bewertung des Actionhelden Jack Bauer, Hauptakteur der Serie „24“. „24“ unternimmt erst gar nicht den Versuch, den Ausnahmezustand, den die Serie abbildet, geschickt zu verschleiern. Es gibt Terroristen, es gibt ein Zeitlimit von 24 Stunden und es gibt Jack Bauer, der eben diese Terroristen zur Strecke bringen muss, komme was da wolle. Und es kommt in der Tat ziemlich viel. In Folge dieser permanenten Eskalationen schießt, foltert und mordet sich der Agent Jack Bauer fröhlich durch die Serie, immer legitimiert durch sein höheres Ziel, den Ausnahmezustand, geformt durch die von den Terroristen gebildete Gefahr, zu brechen und damit zu überwinden. Im Gegensatz zu dem Handeln, was die Frauen und Männer in der Serie „Sex and the City“ zur Schau stellen, dass in seiner Fokussierung auf Kaufrausch, Sex und der Sehnsucht nach Zuneigung, nur als Reaktion auf die, sie umgebenden Zustände, zu werten ist, so formt das Handeln des Jack Bauer ein Ideal der Handlungsmacht im Umgang mit dem Ausnahmezustand: Das des Souveräns.
Für Bauer gelten keine Gesetze, nicht einmal die, die den Staat, den er beschützen will, konstituieren. So mordet Bauer zum Beispiel einen Terroristen aus dem Zeugenschutzprogramm, um mit dessen abgetrennten Kopf Zugang zu einer weiteren Bande von Terroristen zu finden. Sowieso muss der Typus des Souverän oder, um im Seriensprachgebrauch zu verweilen, der des Helden, als Typus angesehen werden, der, gleich dem Ausnahmezustand, dem er entspringt, in vielen Serien anzutreffen ist.


Diese Form der Darstellung verwundert insofern nicht, da sie eine logische Reaktion auf den dargestellten permanenten Ausnahmezustand und dem Umgang mit eben diesem bildet. Ein Staat, der in seinem inneren Sein durch den permanenten Ausnahmezustand definiert wird, ist nicht mehr in der Lage seinen Pflichten, die ihn eigentlich erst als Staat konstituieren, nachzukommen. Es obliegt somit dem Souverän dieses Defizit an staatlichem Agieren durch sein eigenes Sein und sein eigenes Handeln zu kompensieren. Jack Bauer vereint, um der akuten Bedrohung der Terroristen Herr zu werden, in seiner Rolle Judikative, Legislative und letztendlich Exekutive. Er ist somit zum einen klassischer Superheld, zum anderen aber die totale Negation staatlicher Gewaltenteilung. Die propagierte Auflösung der Gewaltenteilung wird somit konkret zur Metakommunikation der Serie, gebildet durch das Wesen der Serie selbst. Allerdings ist eine völlige Ablösung des Souveräns vom Staat innerhalb der Serie so nie nachzuweisen. So extrem Jack Bauer in seiner Rolle als Souverän dem Staat entgegensteht, so sehr ist er zugleich dessen Diener: Agent. Jack Bauer ist somit in seiner Funktion eher weniger „Batman“ oder „Superman“, denn Angestellter, der vollends und allumfassend die ihm zugetragenen Aufgaben löst. Er verkörpert par exellance das Ideal des Beamten. Die von den Serien verübte Kritik am Ausnahmezustand, dem defizitären staatlichen Agieren und auch die von der Serie behandelten Lösungsansätze verkommen somit zu einem Modell regressiver Staatskritik.
Ein Modell des Gegensouverän wird gefordert und propagiert, dass Max Horkheimer in seinen Schriften als „Autoritären Staat“ beschreibt und der, im völligen Gegensatz zu den Vorstellungen von Max Weber bezüglich eines Staates, aktiv und autoritär zwischen den verschiedenen, in ihm agierenden Kräften, agiert und waltet.



Im Besonderen greift diese Form der regressiven Staatskritik in der Serie „Sons of anarchy“. Diese Serie, die von einem Outlaw-Motorradclub, ähnlich den „Hells Angels“, handelt, der durch Partizipation am überregionalen Drogen und Waffenhandel und damit verbundene aktive Akkumulation von Kapital, versucht die wirtschaftliche Globalisierung aus der imaginären Stadt Charming fernzuhalten, formuliert den Wunsch nach einem autoritären Staat par exellance.
Nicht Terroristen oder die neusten Schuhe bilden hier den Ausnahmezustand, sondern das kapitalistische Wirtschaftssystem selbst. Insbesondere dessen globale Dimensionen, wie überregional agierende Unternehmen, werden in der Serie als Ausnahmezustand definiert, vor dem es die Stadt Charming zu bewahren gilt. Und diese Aufgabe des Bewahrens obliegt nicht dem Staat, oder im Falle Charmings der Lokalpolitik, sondern den Outlaw Bikern. Gemäß dem Motto Minus und Minus ergibt Plus formuliert die Serie den Anspruch, dass ein Ausnahmezustand bekämpft durch einen anderen Ausnahmezustand letztendlich zum Normalzustand zu führen habe.
Diese Darstellung und auch, die sich aus ihr heraus formulierende, Kritik ist aber nicht nur wegen dieser (un)logischen Schlussfolgerung der sich aufhebenden Ausnahmezustände ein zweischneidiges Schwert. Die Serie „Sons of anarchy“ formuliert in ihrer Darstellung des Ausnahmezustandes eine marxistisch motivierte Kritik. Nicht das Außergewöhnliche, sprich die Krise formt den Ausnahmezustand, sondern die dauerhafte Akkumulation des Kapitals selbst führt, aus ihrer eigenen Logik heraus, zu dauerhaften Prozessen der Krise und somit zu dauerhaften Ausnahmezuständen. Das Kapital in diesem Ausnahmezustand ist nur noch selbstzweckhaftund ernennt sich selbst zum System.
Der Entwurf der Gegenstrategie, die die Serie aber, in Anbetracht dieser Situation erschafft, ist mehr als gefährlich. Zuerst reduziert sie die Gesellschaft auf eine sehr kleine Einheit, die unter sich nur noch die Familie hat. Die dörfliche Gemeinschaft, der Klan. Dieser Klan nun wird durch die obige Situation, den Dauerzustand der Kapitalakkumulation, bedroht. Und die Lösung, die die Serie in Bezug auf diese Problematik formuliert, ist eine simple: Der Wunsch nach einem autoritären Staat, der in der Serie in Form eines Motorradclubs auftritt und agiert. Es ist nicht nur dieser Wunsch nach Autorität und einem Souverän, der diese Darstellung so unsympathisch gestaltet, sondern vor allem ihr Fall in die Barbarei. Ein Fall der sich aus dem Wunsch nach, von einem Souverän hergestellter, Harmonie speist. Vernichtung divergenter Faktoren, die dieser Harmonie entgegenstehen, inklusive. Es ist dieser Umstand, der die Serie erschreckend nah an ein gesellschaftliches Ideal der nationalsozialistischen Gesellschaft rückt. Wenn also die Biker in der zweiten Staffel der Serie gegen eine überregionale Bande, die in Form einer Nazivereinigung Darstellung findet, kämpft, um deren globalisiertes Geschäftsmodell aus der Stadt fernzuhalten, so stehen Biker und Nazis zumindest ideologisch Hand in Hand dar, auch wenn der Kampf gegen die Nazis natürlich oberflächlich perfide einem Antifaschismus huldigt. Das dieses Ideal der wehrhaften Volksgemeinschaft aber von Seiten der Zuschauerinnen und Zuschauer nicht bewusst rezipiert wird, liegt an der seduktiven Verkleidung der ganzen Serie, die mit ihren Momenten, die vom erotischen Männerbund bis hin zur „Happy End“ Liebesgeschichte alle Register medialer Verführung zieht.



Auch in Serienformaten, die im Allgemeinen nicht diesem Bereich der kulturindustriell gefertigten Serie zugerechnet werden, sondern in ihrer Art als Refugium einer Art „Hochkultur“ definiert werden, finden sich solche Zugänge zur Darstellung von Gesellschaft. Das beste Beispiel hierfür bildet die Serie „The Wire“.
Auch wenn „The Wire“ schon, einzig aus dem Grund seiner formal-ästhetischen Struktur, dem Aufbau und die Aufteilung der gesamten Serie in verschiedene Facetten, dem Vorwurf umgeht, eine stringente Handlung abzubilden und somit ähnlich wie „24“ oder „Sons of anarchy“ konkrete Positionen abzubilden, so sind innerhalb der Serie doch immer wieder Aspekte, selbst in stark das Format dominierender Ausgestaltung, auszumachen, die sich Formen des seriellen Erzählens annähern. Auch wenn „the wire“ seine Handlungsstränge in einzelne Facetten aufteilt, manche Stränge nie zu Ende erzählt oder im Gegenzug andere erst viel später im Verlauf der Serie wieder aufnimmt, so gibt es doch innerhalb der Serie gewisse Facetten, die innerhalb der jeweiligen Staffel starke Betonung finden und zumeist als Grundlage die Thematik der einzelnen Staffeln darstellen. Es sei hier nur an die Ermittlungen gegen Avon Barksdale aus Staffel 1, das Hamsterdamprojekt aus Staffel 3 oder den Serienmörderkomplott aus Staffel 5 erinnert, die staffeldominierende Erzählungen abbilden. Diese grundlegenden Strukturen der Handlung formen auch innerhalb von „The Wire“ Strukturen, die ganz ähnlich zu „Sons of anarchy“ einen gesellschaftlichen Ausnahmezustand formen. Gleicher Art gestaltet sich auch die Darstellung des kapitalistischen Wirtschaftssystem. Die Kapitalakkumulation ist zum System selbst geworden und somit zum reinen Selbstzweck. Immer größere Teile der Gesellschaft werden aus dem Prozess der Kapitalproduktion exkludiert. Selbst Baltimoore, die Stadt in der sich die Serie verortet, ist Symbol für eine dergestalte Exklusion. Und an diesem Punkt der Exklusion beginnt die Inszenierung und auch die Kreation einer Kritik, die die Serie vollzieht: „The Wire“ führt uns, als Rezipienten, nicht die Jugendlichen vor, die gelangweilt von ihrem Leben und getrieben von der Hoffnung nach Sicherheit und Anerkennung an der Baltimoore University ihr Studium betreiben, sondern die Serie entführt uns in ein, aus vielen Facetten zusammengesetztes, nie homogen erscheinendes, Bild urbaner Stadtteile, in denen die, vom Produktionsprozess ausgeschlossenen, Individuen ihr Dasein fristen. „The wire“ ist an dieser Stelle genauso Inszenierung wie die Kleinstadt Charming bei „Sons of anarchy“ oder die mondänen Appartements der New Yorkerinnen in „Sex and the city“. Es ist Grund dessen nur logische Konsequenz, dass auch „The Wire“ Lösungsansätze bezüglich der, von ihr dargestellten, Problematiken inszeniert.
Diese Inszenierungen sind aber und hierbei stehen sie im krassen Gegensatz zu „Sons of anarchy“ oder auch „24“ nur oberflächlich im Geiste des Wunsches nach einem autoritären Staat geformt. Im Sinne dieses Geistes sind zwar die Methoden von McNaulty oder von Major Colvin als nichts anderes als die Evolution des Individuums zum Souverän und die dadurch bedingte kurzzeitige Überwindung der systemimmanenten Spielregeln zu werten, jedoch ist eben diese Evolution letztendlich nicht Erfolgsgarant. Während in „24“ oder „Sons of anarchy“ der Bruch der Regeln und das Handeln gegen systemimmanente Defizite zur Auflösung dieser systemimmanenten Fehler führt, so führt das Handeln der Akteure in „The Wire“ lediglich zu oberflächlichem kurzzeitigen Veränderungen. Das System aber bleibt das Gleiche. Die Inszenierung von „The Wire“ bezüglich des gesellschaftlichen Ausnahmezustandes ist somit zweierlei: Zum einen Kritik an einem defizitären System, dass seine Defizite aber immer zyklisch selbst reproduziert und das den Ausnahmezustand durch seiner Selbst Willen zur Norm generiert. Dies ist letztendlich der Aspekt, der der Serie immer wieder als kulturdiagnostisches Potenzial zugeschrieben wird.
Anderseits aber kritisiert die Serie die Form der Meinungs- und Gesellschaftsproduktion, wie sie die Kulturindustrie in Form der seriellen Produktion vornimmt. Die kurzsichtige, regressive, strukturell antisemitische und emanzipationsfeindliche Kritik am Kapitalismus. Der propagierte Rückschritt in die Volksgemeinschaft und somit die direkte Entscheidung für die Barbarei. Womit wir zum Ende dieses Artikels wieder bei Adorno und Horkheimer und deren Dialektik der Aufklärung angekommen wären und wenn wir nun die ersten Zeilen des Bonni Tyler Liedes, das was uns Serien wie „Sons of anarchy“ oder „24“ propagieren betrachten, so müsste Adornos Satz aus seinem Aufsatz Kulturkritik und Gesellschaft eigentlich umformuliert werden:

Nach Ausschwitz eine Serie zu machen, ist barbarisch.

Quellen:

Fisher-Lichte, Erkika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main, 2004
Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main, 1988
Siemionek, Peter; Worm, Anja: Die Lizenz zur Krisenlösung. Zum Wandel einer kulturindustriellen Ikone, in: Bahamas Nr. 57. Die Sehnsucht nach dem Ausnahmezustand, Berlin, 2009
Krug, Uli: Apparatur der Panik. Zum Funkstionwandel der Krise, in: Bahamas Nr. 57. Die Sehnsucht nach dem Ausnahmezustand, Berlin, 2009
1Bonnie Tyler: „Holding out for a hero“, Strophe 1

Frank Miller - Schwitzend in den Kampf der Kulturen

Schwitzend in den Kampf der Kulturen
Die Graphic Novels des Frank Miller und deren Verfilmungen als pervertierte Reflexionen der amerikanischen Gesamtgesellschaft und im Besonderen deren medialen Umgangs mit islamistisch motiviertem Terrorismus

Es kann wohl direkt zu Beginn dieses Essay behauptet werden, dass Frank Miller neben Alan Moore wohl zu den wenigen, wenn nicht gar einzigen, Comickünstler gezählt werden kann und darf, dessen Name einem breiten Publikum auf dem amerikanischen als auch europäischen Kontinent zumindest peripher ein Begriff sein dürfte. Es sei jedoch auch schon gleich an dieser einleitenden Stelle konstatiert, dass diese Berühmtheit der beiden Künstler keineswegs nur aus ihrem Werkschaffen allein resultiert, sondern vielmehr auf die markanten multimillionen teuren Verfilmungen ihrer Comicarbeiten zurückzuführen ist.
Bei Alan Moore sind insbesondere die Verfilmungen seiner Werke „V FOR VENDETTA“ aus dem Jahr 2005 der Brüder Larry1 und Andy Wachkoswki, sowie die Verfilmung seines Hauptwerkes „WATCHMEN“ durch Zack Synder zu nennen. Eben dieser Zack Synder, der 2004 mit seinem Spielfilmdebüt, einem Remake des George Romero Kult-Zombie-Films „DAWN OF THE DEAD“, einen beachtlichen Erfolg gefeiert hatte, zeichnete sich dann auch für die zweite Verfilmung eines Werkes von Frank Miller verantwortlich: dem antiken Schlachtengemälde „300“. Bereits zwei Jahre zuvor hatte Tarantino-Buddy Robert Rodriguez Millers einzigartigen Zeichenstil mit seiner Verfilmung von „SIN CITY“ auf die Leinwand transformiert. Und auch wenn die etwas komplexeren und weniger actionorientierten Verfilmungen der Werke Moores gegen die bombastischen Effektfeuerwerke der Frank Miller Verfilmungen in der Gunst der ZuschauerInnen leicht zurücklagen, so führten doch beide Filme zu einer verstärkten Rezeption der Ursprungswerke. Ja, es kann an dieser Stelle gar die These formuliert werden, dass Millers und Moores Werke zumindest in Deutschland einem breiten Publikum die Welt der sogenannten Graphic-Novels offenbarten und die Comics zu Objekten der Populärkultur formten. Das gesamte Gerne des Comics profitierte hierbei von einer Art des Imagewandels, der zuvor schon einige Jahre immer wieder in den Feuilletons der verschiedensten Zeitungen nachzulesen war. Der Comic wandelte sich in Form der Graphic Novel weg von seiner Funktion als Unterhaltungsmedium für spätpubertierende, männliche Nerds mit einer hohen Affinität für das Sammeln von Seltenem und Jugendlichen aller Couleur, hin zu einem ernstzunehmenden Medium der Literatur.
Im Jahr 2012 wird dieser Status der Graphic Novels nur noch selten in Frage gestellt und Werke wie Moores „WATCHMEN“ werden vom Time-Magazin wie selbstverständlich in einer Liste die die 100 besten englischsprachigen Romane seit 1923 listet, gefasst.

Insbesondere die Graphic Novels der beiden populären Ikonen Moore und Miller werden hierbei von Medien jeglicher Art und Ausrichtung, das deutsche Spektrum erstreckt sich hierbei von der kulturkonservativen „Die Welt“ bis hin zum sich selbst als avangardistisch gebärdenden Monatsmagazin „SPEX“, mit einem Stellenwert rezipiert und rezensiert, der dem Umgang mit einem neuen Werk des Literaten Umberto Ecco in Nichts nachsteht. So auch beim neusten Werk Frank Millers, dass Ende 2010 in den USA unter dem Titel „HOLY TERROR“ das Licht der Welt erblickte und schon bereits kurz nach Erscheinen, und lange vor einer in das Deutsche übersetzten Ausgabe, in vielen deutschen Medien Beachtung fand. Doch warum?

Die Gesamtheit des millerschen Ouvres lässt sich vortrefflich durch den englischen Slogan „style over substance“ charakterisieren. Die graphischen Umsetzungen der von Miller erzählten Geschichten sind in all ihren Manifestationen immer einzigartig und vermischen dabei gekonnt traditionelle Elemente der bildenden Kunst, traditionelle Elemente der amerikanischen Comic-Kunst, sowie verschiedenartige Traditionen der Filmkunst und neuartige Trends der bildenden Kunst zu einem stimmigen Gesamtbild. Prägnantes Beispiel für diese Hybridkunst ist sicherlich der von Miller in den Comics „SIN CITY“ perfektionierte graphische Stil, der Elemente des „Film-Noir“, der populären Street Art ala „Banksy“ und klassische Stilelemente typischer us-amerikanischer Heldencomics, ala DC und Marvel, in sich vereint. Hinzu kommt bei Miller, und das macht ihn für Verfilmungen so reizvoll, dass dieser bombastische Stilmix sich exzellent vom Medium des Buches hin zum Medium des Films transformieren lässt. Die Bildsprache Millers wird gar durch die, dem Kino innewohnende, Größe der Projektion noch weiter unterstützt. In Kombination mit der extrem körperlich orientierten Handlungen, die alle Arbeiten Millers dominieren, ergibt sich eine Grundsubstanz, die als Devierat im Kino perfekt funktioniert. Die fast zweistündige videoclipartige Schlachtencollage des Films „300“, sowie die episodenhaft inszenierte Gewaltorgie „SIN CITY“ legen hiervon eindrucksvoll Zeugnis ab.

Doch Millers Werke und insbesondere deren Verfilmungen zeichnen sich, abseits dieser effektgeschwängerten Oberfläche, durch eine auf den ersten Blick kaum ersichtliche Metaebene aus. Es sind die in Millers Geschichten angelegten Grundkonflikte und insbesondere deren Ausformulierungen in den jeweiligen Verfilmungen, die das Werk Millers weitaus interessanter, vor allem aber gesellschaftlich reflexiver gestalten, als dies in Bezug auf meine vorherigen Ausführungen anzunehmen ist. Millers Werke und deren Verfilmungen sind immer eine pointierte Reflexion des jeweiligen aktuellen gesellschaftlichen Geistes dem sie entstammen. Grundsätzlich lässt sich bei diesen Reflexionen zwischen zwei gearteten Wegen der Bearbeitung unterscheiden: Zum Einen die Pervertierung vorherrschender positiv konnotierter gesellschaftlicher Dogmen, zum Anderen die Überaffirmation mit medial geprägten und tief in der Gesellschaft verankerten Stereotypen.



Stark offensichtlich wird dieser gesellschaftsreflexive Moment zum ersten Mal in den Comics „SIN CITY“, in denen die Stadt „Basin City“ eine Art pervertierte Miniaturausgabe des amerikanischen Traumes ausformuliert und manifestiert und Grund dessen als eine Art Schmelztiegel fungiert in der alle positiv konnotierten Werte der amerikanischen Gesellschaft in das extreme Gegenteil umgepolt werden. Die staatliche Exekutive verkommt zu einem Haufen folternder und mordender PsychopathInnen; ein Gleiches gilt für die staatlichen Autoritäten wie Verwaltung und Kirche, wobei letztere von Kannibalen durchsetzt dargestellt wird. Eine einzigartige und originelle Perversion des christlichen Abendmahlmotivs. „SIN CITY“ ist Millers monströser Gegenentwurf zu einer amerikanischen Gesellschaft, die in den Realitäten der 90ern noch im anhaltenden Traum eines unendlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wachstums verhaftet war und erst knapp ein Jahrzehnt später aus diesem erwachen sollte. Die Verfilmung aus dem Jahr 2005 behält diesen Grundtenor unverändert bei, ergänzt das Bild aber außerordentlich geschickt durch Bezüge zur Realität, in dem der Film dominierend Schauspieler einsetzt, die im wirklichen Leben die Kehrseite des amerikanischen Traumes er- beziehungsweise durchleben mussten. Allen voran Michael Madsen und Mickie Rouge.



Ein gleichwertiger mythenhafter Grundkonflikt findet sich in dem Werk „300“, dass im Jahr 1998 Publikation erfuhr. Hierbei handelt es sich um Millers Bearbeitung der berühmten historischen Schlacht der Spartaner gegen die Perser bei den Thermophylen. Interessant ist bei diesem Produkt der krasse Bruch innerhalb der Darstellung in der Transformation vom Buch zum Film. Nicht optisch, denn gerade der Stil wurde gekonnt und vorlagenaffin übersetzt, sondern auf rein inhaltlicher Ebene.
Millers Werk erschien im Jahr 1998 und somit drei Jahre vor den islamistisch motivierten Anschlägen der Terrorganisation Al-Quida und dem darauf folgenden, von den US-Streitkräften dominiereten, Krieg gegen Afghanistan. Es verwundert somit auch nicht, dass Millers Bild der dargestellten Perser, als Angehörige des arabischen Kulturkreises, sich nicht in Stereotypen ergibt, wie sie aus den letzten Jahren immer wieder in Medien reproduziert wurden und werden: Der mit Turban, AK-47 und langem Bart ausgestattete nihilistische Feind der westlichen Kultur. Wir alle kennen dieses Bild der Populärkultur zu Genüge und wissen, dass dieses Bild noch einen marginalen Bezug zur konkreten Realitäten aufweist. Vielmehr ergeben sich Millers Darstellungen einer immer doppeldeutigen Darstellung der beiden antagonistisch angelegten Konfliktparteien. Die Spartaner manifestieren sich als faschistoide Verteidiger eines Kulturkreises, aus dem sie sich schon lange Grund ihrer extremen Ausformulierung des eigenen elitären Kriegeradels exklusiviert haben auf der einen Seite und die Perser auf der anderen Seite als dekadente Imperialisten, die letztendlich in ihrem Dasein nur noch egozentrisch um ihre Dekadenz zirkulieren, angeführt vom psychopathischen König Xerxes, der in keiner Facette seines Seins mehr historisch determiniert erscheint, sondern nur noch als extremstes Abbild dieser Dekadenz erscheint.
In Bezug auf die Darstellungen der Graphic Novel erscheinen viele Interpretationen die Millers Werk zum damaligen Zeitpunkt reaktionäre Tendenzen unterstellten als zu kurz gegriffen. Als im Jahr 2007 jedoch die Verfilmung des Werkes durch Synder, unter starker Inklusion von Miller, realisiert wurde, gestaltete sich das Endprodukt völlig anders und die etliche Jahre zuvor formulierten Kritiken der reaktionären Propaganda sollten zur besten Beschreibung dieses filmischen Machwerks avancieren.
Die Welt, insbesondere die Amerikanische, hatte sich seit Erscheinen der Graphic Novel 1998 so drastisch geändert wie selten zuvor. Die USA hatten 2001 einen für die nationale Psyche verheerenden Anschlag auf zwei ihrer Wirtschafts- und eines ihrer Regierungssymbole verkraften müssen und befanden sich seit diesen Jahren in einem zermürbenden Kampf in Afghanistan. Erst gegen die dortigen Machthaber, die Taliban, anschließend gegen eine für den normalen Soldaten nicht mehr nachvollziehbare Anzahl von Gegnern, die angeblich alle ihren Konsens im Kampf gegen die von den Amerikanern ermöglichte neue „demokratische Ordnung“ fanden. Hinzu kam 2003 der Krieg im Irak, der sich in seinem Verlauf zu einem ähnlich schwer nachvollziehbaren Kampf, wie der in Afghanistan, wandelte. Doch auch in der westlichen Welt trugen diese Konflikte ihre kulturellen Früchte: Der arabisch stämmige Mensch, insbesondere der sich zum Islam bekennende, verkam in den Medien zu einem Objekt, dessen inhaltliche Ausgestaltung sich am besten mit der Simulakrum-Theorie Jean Baudrillards um- und beschreiben lässt. Baudrillard geht in seinem Hauptwerk das im deutschen unter dem Titel „Der Symbole Tausch und der Tod“ vorliegt, davon aus das Bilder in ihrer medialen Reproduktion von ihren originären Inhalten abgelöst werden und mit neuen Bedeutungsebenen versehen werden können. Genau dieser Prozess trifft auf das von den Medien seit 2001 gezeichnete Bild des arabischstämmigen Menschen zu.
Während in den ersten Jahren zuerst medial eine direkte Korrelation zwischen einem aus dem arabischen Kulturkreis und sich zum Glauben des Islam bekennenden Menschen und einem/ einer TerroristIn in der medialen Darstellung suggeriert und produziert wurde, die jeglicher gesellschaftlicher Grundlage entbehrte, so wurde dieses Bild in den folgenden Jahren noch weiter abstrahiert und deformiert. Spätestens im Jahr 2007 ist das Bild das seinen originären Ursprung in den videoclipartigen Selbstinszenierungen des Terroristenführers Osama-Bin-Laden findet, soweit ein Abstraktum, dass letztendlich der arabischstämmige Mensch nur noch als Symbol für eine ominpräsente und akute Bedrohung der westlichen Kultur durch eine all ihre Werte nihilierende Macht in ihrer absoluten und reinen Inkarnation repräsentiert.
Synders Verfilmung von „300“ präsentiert in ihrer Ausgestaltung, sowohl inhaltlich als auch äußerlich, dieses Bild in annähernder Perfektion. Die Spartaner sind in der Verfilmung zu heldenhaften Verteidigern der Kultur geworden, die anders als bei Miller, vollends ihre eigene ist und zudem noch durch einige nette emanzipatorische Werte aufgebauscht wurde. Es sei an dieser Stelle nur der Dialog zwischen Spartanerkönig Lenonidas, dessen Frau und einem persischen Abgeordneten zu Beginn des Filmes erinnert. Auch ist die äußere Darstellung der Spartaner, nicht mehr wie bei Miller teilweise von Hässlichkeit geprägt, sondern frönt einem positiv konnotierten Körperfetisch, der für westlich-kapitalistisch geprägten Gesellschaftsmodelle bis zum heutigen Tag dominierend ist. In der Verfilmung „300“ paart sich diese Darstellung zudem mit einem unreflektierten Rückgriff auf die Körperdarstellungen der Filme Leni Riefenstahls.
Wichtiger in Bezug auf die Funktion der gesellschaftlichen Reflexion ist jedoch die Darstellung der Perser. Diese werden in ihrer großen Masse als geschichtslose Masse dargestellt, die blind ihren expressionistisch ausgestalteten Führern folgt und in vielen Facetten ihrer Ausgestaltung unübersehbare Reminiszenzen zu dem medialen Stereotyp des arabischen „Terroristen“ aufweist. Gerade aber die Führerfiguren der Perser bergen in ihrer Ausgestaltung noch einen Rest an Einzigartigkeit, der zu Beginn dieses Abschnitts dazu führte davon zu sprechen, dass Synder und Miller im Film „300“ das Simulakrum des arabischstämmigen Menschen nur annähernd perfekt auf die Leinwand transformierten. Die Perserführer, im Besonderen deren König Xerxes, sind derartig exotisch, überindividualistisch und expressionistisch ausgestaltet, dass sie dem kargen, nihilistisch gezeichneten medialen Feindbild der westlichen Kultur konträr entgegenstehen. In diesen Figuren ist noch im entferntesten die Doppelbödigkeit der ursprünglichen Miller Darstellungen zu erahnen, auch wenn diese Darstellungen in der Verfilmung Grund ihrer fehlenden Kontextualisierung im Gesamtwerk, vielfach stark rassistisch und auch homophob konnotiert erscheinen. Es sei hier nur auf die stark bipolare Gegenüberstellung des Zarathustra ähnelnden Übermenschen Leonidas und dem androgynen Charakter Xerxes verwiesen. Das Werk „300“ von Synder und Miller verkommt somit in seiner Verfilmung letztendlich zu einem elendigen Machwerk, dass sich exzessiv aus alten Bildtraditionen wie den Bildern Riefenstahls und neuen Bildtraditionen, wie dem Simulakrum des arabischstämmigen Menschen, heraus konstituiert und diese Bilderwelten als leicht verdauliches Popcornkino inszeniert, das in seiner Süße den bitteren Geschmack der unzähligen direkten und indirekten Diskriminierungen des Werkes überdeckt. Und nichts desto trotz kann und muss „300“ gerade auf Grund dieser inszenatorischen Strategien als ein Abbild der amerikanischen Gesellschaft angesehen werden. So wie „Rambo 2“ und „Rambo 3“ filmische Durchhalteparolen für die Konflikte des Kalten Krieges formten und inszenierten, so vollzieht „300“ diesen Schritt für all die kämpfenden US-SoldatInnen in Afghanistan und dem Irak.


Als dann in den letzten Monaten das neuste Werk Millers, die Graphic-Novel „HOLY TERROR“ erschien, mehrten sich schlagartig, insbesondere in den deutschen Medien, die Rezensionen die Miller erneut beschuldigten in seinem Werk reaktionären Ideen Vorschub zu leisten. Besondere Empörung rief die Ausgestaltung der islamischen TerroristInnen hervor, die angeblich nur noch auf einen bloße existentialistisch-nihilistischen Willen zur Vernichtung reduziert wurden seinen und die diese Kräfte bekämpfenden SuperheldInnen, die als über brutale Verteidiger des Westens nicht nur Schädel, sondern auch KritikerInnen zutiefst spalteten.
Es sind aber genau diese Bilder, die fast jede Besprechung weltweit erkennt und behandelt, die im Falle des Werkes „HOLY TERROR“ den Moment der gesellschaftlichen Reflexion formen. Miller verbindet in diesem Werk seine beiden grundlegenden Strategien der Überaffirmation und die der Perversion. So erschienen die eigentlichen HeldInnen der Graphic-Novel als degenerierte GewalttäterInnen, die einer autonom geformten Agenda folgen, die Legislative, Judikative und Exekutive in sich vereint und die beiden Figuren zu absoluten Souveränen erhebt. Ganz ähnlich den Figuren des Erfolgswerkes „SIN CITY“ repräsentieren auch diese beiden Figuren letztendlich eine Umpolung der mit SuperheldInnen gemeinhin assoziierten positiven Werten. Das diesen Werten, die Miller pervertiert, in den letzten Jahren starke gesellschaftliche Relevanz zugekommen ist, lässt sich nicht nur an den unzähligen Comicverfilmungen ablesen, die soweit gingen, dass selbst verstaubte Helden des Zweiten und Kalten Krieges, wie Captain America, ihr Comeback feiern durften.
Aber auch das Bild das von den islamistischen TerroristInnen gezeichnet wird, manifestiert letztendlich eine Abbildung, die eine Überaffirmation mit dem beschriebenen Simulakrum des arabischstämmigen Menschen abformt. Ein Bild, dass Tag für Tag in den westlichen Medien reproduziert wird und doch fällt es in Millers Werke gerade deswegen negativ auf, weil es als Kommulationsobjekt für den Hass und den Willen zur Vernichtung der beiden HeldInnen fungiert und so ganz unkaschiert den Hass und die Gewalttätigkeit offenbart, die diesen Bildern innewohnt und ihre Existenz konstituiert. Das geschaffene Szenario bildet somit nur auf den ersten Blick eine unreflektierte Reproduktion reaktionärer Ideologie ab, der sich Autor Miller scheinbar affin zeigt. Auf den zweiten Blick aber offenbart das Werk seine reflexive Wirkung über die, die derzeitigen Medien und somit weite Teile der amerikanischen als aber auch der europäische Gesellschaft dominierenden medial produzierten und reproduzierten Stereotypen. Das diese Wirkung durch die noch stärker an die derzeitige Street-Art Kunst angelehnte Stilmittel wie Drippings, Scretchings usw. verstärkt wird, muss an dieser Stelle nicht explizit weiter ausgeführt wird.
Letztendlich ist aber der beachtenswerte Punkt des ganzen Werkes „HOLY TERROR“, dass Miller mit ihm den Zorn Medien auf sich zog, die letzten Endes die Bilderwelten Millers nur noch im Sinne einer positiven Affirmation zu deuten wussten. In Deutschland verwies lediglich das konservative Blatt „Die Welt“ in einem Artikel über das Werk auf dessen avantgardistischen und reflexiven Anspruch. Es ist diese Funktion als Seismograph die Millers Werk so interessant gestaltet, es aber zugleich auch immer zu einem Objekt formt, dessen Inhalte gerade auf Grund dieses sensiblen Zeitbezuges immer stark anfällig für eine, die ursprüngliche Intention vernichtende, exploitative Umformung in das Medium Film machen. Und so dürfte es nicht verwundern, wenn wir die HeldInnen aus „HOLY TERROR“ in ein paar Jahren spartanerartig metzelend über die Leinwand huschen sehen. Zack Synder wir sind bereit!



Quellen:

Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod, Matthis&Seitz, 2010
Miller, Frank; Varley, Lynn: 300, Cross Cult, 2006
Miller, Frank: HOLY TERROR, Legandary Comics, 2011
1Der/ die mittlerweile unter dem Namen Lana Wachkowski öffentlich in Erscheinung tritt.

Freitag, 2. März 2012

Die Exploitation des defizitären Selbst

Die Exploitation des defizitären Selbst
Mediale Konstruktionen der Identität in aktuellen Sendeformaten des Privatfernsehens




Zu Beginn des Essays möchte ich Sie, liebe Leserinnen und Leser bitten, sich auf das folgende alptraumhafte Gedankenspiel einzulassen: Stellen Sie sich vor, Sie sind, durch eine schwere Erkrankung - gebrochene Beine, zwei eingegipste Hände, oder ein schrecklicher Hexenschuss - lassen Sie ihrer Fantasie hier freien Lauf, gezwungen, eine komplette Woche in ihrer Wohnung zu verbringen. Geistig sind sie vollkommen fit, nur besteht das Problem, dass es aus einem Fernseher mit Kabelanschluss in ihrer Wohnung nichts, zur Ablenkung dienendes, gibt. Keinen Laptop, keine Bücher, keine Cds, nix, nada! Sie sind also gezwungen, sich eine ganze Woche mit Hilfe des Fernsehers und des über ihm empfangenen Programms von ihrem tristen Sein abzulenken. Entzug durch 24 stündige Mittagsschläfchen gelten an dieser Stelle nicht!
Dem aber noch nicht genug. Zur weiteren Steigerung dieser dantischen Höllenvision kommt, dass der Fernseher Ihnen nur das Sehen von privaten Fernsehsendern erlaubt. Das heißt für Sie, liebe Leserinnen und Leser, die gerade in den freundlichen Gedanken an eine Woche „ARTE“ und diverse, mehr oder minder schlechte, Talk-Shows und Dokumentationen des öffentlich-rechtlichen Fernsehsehens geschwelgt haben, dass Sie ebenso dazu verdammt sind, eine Woche den lieblichen Serienformaten von Sendern wie „RTL“, „RTL 2“, SAT1“, „VOX“ usw. zu frönen.
Lassen Sie diese Vision für einen Moment sacken, trinken Sie anschließend einen Schluck zur Beruhigung der Nerven von dieser abenteuerlichen Gedankenreise und beten Sie dann noch einmal dafür, dass die eben illusionierte Situation Ihnen so nie in der Realität widerfährt. Ich jedenfalls wünsche es Ihnen nicht.

Was aber für Erkenntnisse, erst recht solche, die es Wert sind in einem solchen Essay Würdigung zu erfahren, würde uns eine solche Gedankenreise oder gar das Praxisexperiment bringen? Wahrscheinlich zuerst die banale Erkenntnis, dass es in der derzeitigen Medienlandschaft nichts gibt, was es nicht gibt. Eingebildete TV-Köche und Hobbybetriebswirtschaftler erklären, noch unfähigeren Köchinnen und Köchen und Betriebswirtschaftlern, wie sie ihr Hotel, ihr Restaurant oder ihre bankrotte Frittenbude im Vorort von Lutherstadt-Eisleben, oder einem anderen Ort, von dem die meisten Zuschauerinnen und Zuschauer noch nie im Leben vorher etwas gehört haben, möglichst mondän und touristenattraktiv umgestalten können, um somit letztendlich gar so etwas wie Profit damit erwirtschaften zu können. Das die defizitäre wirtschaftliche Situation eines Unternehmens aber nicht immer nur allein aus einer defizitären inneren Struktur entstehen und resultieren muss, sondern auch zu einem nicht unerheblichen Teil in Bezug zu gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen steht, wird von Sendeformten wie VOX's „Rosins Resturant – Eine Sternekoch räumt auf!“, mit einem Marktanteil 7,3% und dem markanten Gesicht von Sternekoch Frank Rosin, vollends ignoriert. Die zum Teil immer noch schlechte Infrastruktur in ländlichen Regionen im Osten Deutschlands, egal! Die allgemeinen Folgen des demographischen Wandels und Arbeitsmarktentwicklungen, zumeist dominiert durch eine hohe Landflucht und Arbeitslosigkeit, in ländlichen Gebieten, geschenkt! Es sind die abgebildeten und präsentierten Identitäten, die für die Resultate einzig und allein, gründend in ihrem inneren, als defizitär kreierten, Sein, verantwortlich sind. Aber wie heißt es so schön: Pech im Spiel, Glück in der Liebe. Oder, in die Logik der TV-Formate transformiert: Wer nicht mit seiner beruflichen Identität in unsere Sendeformate passt, der tut dies bestimmt mit seiner privaten Identität.
Demzufolge gibt es auch keine Gruppe, die nicht von irgendeinem Sendeformat gesucht wird: Bäuerinnen und Bauern, Oma und Opa, seit Jahrhunderten verschollene Familienangehörige, Schwiegertöchter und Söhne, Abnehmwillige, Zuwangsgestörte und Singlemänner und Frauen in rauen Massen selbstverständlich sowieso. Sendungsformate wie „Schwiegertochter gesucht“ oder „Bauern sucht Frau“, beide im Programm von „RTL“, sind Quotenhits und bereichern, oder penetrieren, je nach Sicht, bereits jahrelang das abendliche Fernsehprogramm mit immer zunehmender Zuschauerresonanz. Die, in den Sendung präsentierten, Menschen haben es vielfach zu Ruhm und medialer Omnipräsenz gebracht, Charthits inklusive. Insbesondere solche die, sollten sie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer einmal begegnen, wahrscheinlich dazu bewegen würden, aus ihren Gräbern aufzuerstehen, ihre formulierte Kritik an der Kulturindustrie nochmals zu radikalisieren und sich im Anschluss daran, im Angesicht der Fernsehlandschaft, selbst zu richten. Personen wie der Schäfer Heinrich, mit seinem extravaganten Opus-Magnus, dem Schäferlied, oder das Traumpaar, bestehend aus Bauer Josef und seiner Frau Narumol, die alle drei der Sendung „Bauer sucht Frau“ entstammen, sind selbst Personen bekannt, die es tunlichst vermeiden solche Sendeformate oder auch nur die ausstrahlenden Sender zu konsumieren. Und für all die, die weder beruflich, noch privat mit ihrem Sein im Reinen sind, bietet „VOX“ immer noch das Format „Goodbye Deutschland. Die Auswanderer“. Bedingung für die Teilnahme an dieser Sendung ist aber erstens, das man als Teilnehmer oder Teilnehmerin, am besten inklusive Familie und Kindern, weder Ahnung von der Sprache, noch von der Kultur des Landes besitzt, dass Ziel der ersehnten Ausreise darstellt. Und zweitens, dass man für seine Zukunft im Ausland noch weniger Planung, Ahnung und finanzielle Mittel besitzt, als für das bisherige Leben in der Bundesrepublik. Auch wenn die beiden Kernkompetenzen der AuswandererInnen für sie selbst selbstverständlich eher hinderlich denn förderlich sind, so sichern sie „VOX“ doch direkt Material für zwei Sendeformate. Einmal Auswanderung und einmal wieder Einwanderung. Den geschundenen, stigmatisierten und zumeist auch finanziell bankrotten Individuen, die solche Experimente, im Anschluss an die Dreharbeiten, wieder in die Realität entlassen, kann sich dann ja immer noch Peter Zwegat in seinem „RTL“-Format „Raus aus den Schulden“ bedienen. Oder es wird einfach wieder ein Imbiss gegründet und im Anschluss daran der bereits erwähnte Frank Rosin mit seiner Show gerufen. Ein autopoiesischer Zyklus, der immer wieder auf das Neue Bedürfnisse erzeugt und im gleichen Atemzug suggeriert, dass er Kraft seiner Sendeformate eben diese Bedürfnisse stillen kann. Das Restaurant kann Gewinn erwirtschaften, die große Liebe gefunden werden, die Auswanderung vollends gelingen.
Dieser Zyklus folgt dabei den gleichen Regeln wie die kapitalistische Güterproduktion und unterliegt, Grund dessen, der selben Logik, die Karl Marx bereits 1844 in seinen ökonomisch-philosophischen Manuskripten umriss.



                                            (Der verrückte Live)


Was aber bildet die Anziehungskraft solcher Formate wie „Bauer sucht Frau“ ? Und was verraten uns solche Sendeformate, wie das ganz aktuelle „VOX“ Format „Ein Bus voller Bräute“, indem 20 Singlefrauen quer durch die Bundesrepublik fahren, um in abgelegenen Dörfern die Liebe ihres Lebens zu finden, über die mediale Konstruktion von Identität? Wie müssen Identitäten konstituiert sein, dass sie sich autonom in diesen autopoiesischen Zyklus eingliedern wollen?
In Anbetracht der obig angeführten „VOX“ Sendung „Ein Bus voller Bräute“, mit seinen Kandidatinnen, wie der 52 jährigen Iris, im realen Leben angeblich Sekretärin und Schriftstellerin und vom Auftreten her eine Art unsympathischer Ernest Hemingway in weiblich, oder der 25 jährigen Ronja, angeblich Sozialpädagogin und von ihrem äußeren Erscheinungsbild in rosa Kleidung, mit kleinem Krönchen auf dem Kopf, eine Art pervertierter Albtraum eines Disenyfilms, lässt sich mit Sicherheit schon an dieser Stelle konstatieren, dass die Anziehungskraft solcher Formate nicht rein auf die sympathische Ausstrahlung der Protagonistinnen und Protagonisten zurückzuführen ist. Auch wenn auf Seiten der ZuschauerInnen immer die perverse Lust eines Voyeurismus an der menschlichen Tragödie mitschwingt und bei solchen Formaten wie „Raus aus den Schulden“ in vielen Fällen den ausschlaggebenden Grund zum Konsum bildet.

Eine Fernsehsendung, auch wenn sie eine reale Situation abbildet, ist immer zuerst ein mediales und somit fiktives Format. Ähnlich wie ein Film oder auch nur der abendliche „Tatort“, konstruiert das Format somit Realität. Wenn auch nicht in so rein fiktionaler Form wie der Film, da bei den sogenannten „Reality-TV“ Formaten eben doch immer noch, als grundlegender Moment, ein Rest an vermeintlicher Realität besteht und den ZuschauerInnen suggeriert wird. Die filmische Montage bestimmt demzufolge nicht nur Handlung, Erzählabfolge, deren Kontingenz und Spannungsbogen, sondern auch die Identität seiner Akteure, die sich in dieser Fiktion inszenieren und zugleich durch sie inszeniert werden. Die medial repräsentierte Identität von solchen Gestalten, wie der obig erwähnten Prinzessin Ronja aus dem „Bräutebus“ oder die des Schäfers Heinrich, entstehen also nicht in einem komplexen Wechselspiel aus Fremddefinitionen und Selbstzuschreibungen, wie dies in der Realität der Fall wäre, sondern die filmische Montage zergliedert, fragmentiert und montiert das, was, als Zuschauerinnen und Zuschauer, uns letztendlich zur Illusion der Realität gereicht wird. Auch wenn die Inszenierung der Identität folgerichtig in der Realität keinen solitären Prozess abbildet, so verkommt die mediale Inszenierung von Identitäten zu einem Prozess, der mehr einer künstlerischen Auseinandersetzung mit realen Indentitätskonstruktionen gleicht, denn einer Abbildung von Realität.

Wie bereits zuvor angeführt beruht das Format des „Reality-TV“, der Name impliziert diese Herkunft bereits, immer zu einem gewissen Teil auf einem realen Fundament. Anzumerken sei jedoch hier, dass in ganz perfiden Ausformungen des Formats, es seien hier Sendungen wie das „SAT1“ Format „Verdachtsfälle“ genannt, selbst dieses Fundament illusioniert wird. Bei den meisten Sendungen aber und das ist der entscheidende Moment, sind solche Restbestände realer Momente nachweisbar. So werden Eltern, denen bei jeder noch so kleinen Gelegenheit im Sendeformat „Die Supernanny“ die Hutschnur platzt und sie dazu veranlasst, ihrem Kind ein paar bleibende Erinnerungen an seine Jugend, in Form von kleinen Aufmerksamkeiten mit der Faust, mitzugeben, auch im wahren Leben wohl kaum Befürworter einer antiautoritären Erziehung sein. Und auch so mancher Kandidatin aus der Sendung „Schwiegertochter gesucht“ ist glaubhaft abzunehmen, dass sich die Suche nach Lust und Leidenschaft, in Bezug auf das eigene Leben, durchaus schwierig gestaltet. Mal ganz davon zu schweigen, dass die meisten Menschen, mit nicht allzu stark vermindertem Denkvermögen, wohl lieber die Flucht ergreifen würden, wenn „Ein Bus voller Bräute“ jeglichen Alters und bereit zu allem in ihr Lebensumfeld einfallen würde.

Wenn aber der Soziologie Christian Steuerwald in seinem Essay „Wer bin ich? Soziologische Antworten und künstlerische Übersetzungen“ die Wahl der Kleidung, der Frisur, die Haltung und letztendlich konkrete Verhaltensweise des einzelnen Individuums als wichtigste Aspekt der äußeren Repräsentation dieses Individuums und somit der Kreation der Identität definiert, so muss in Bezug auf die mediale Repräsentation dieser Identität konstatiert werden, dass all diese Faktoren nur in stark eingeschränkter Art und Weise von den Individuen präsentiert und repräsentiert werden können. Wer weiß, ob die 25 jährige Ronja aus dem „Bus voller Bräute“ in der Realität wirklich wie ein Mutant aus dem Disney-Märchenschloss herumläuft und jedem Mann, der nicht bei drei auf den Bäumen ist, um die Arme fällt, beziehungsweise, um auf die erste Folge der Sendung einzugehen, die Trompete bläst.

Fernsehsendungen sind, dass bedingt das innere Wesen ihres Formats, immer eine Komprimierung von realer Zeit. Das eine solche Komprimierung erfolgreich sein kann, bedarf viel Zeit, so wie es bei vielen Dokumentation der Fall ist, die zum Teil über Jahre bestimmte Naturphänomene dokumentieren, um sie dann auf eine Sendezeit von 30 Minuten zu komprimieren. Das ein solch gearteter langwieriger Prozess der Dokumentation und Komprimierung aber nicht bei Sendungen funktioniert, die sich selbst als Aufgabe gesetzt haben, Menschen, die ihr ganzes Leben lang einsam und allein bei Mama und Papa gelebt haben oder 20 Singlefrauen in wenigen Wochen unter die Haube, beziehungsweise vor den Traualtar, zu befördern, ist logische Konsequenz. Es bedarf also der Strukturierung der dokumentierten Zeit, um so, schon vor Beginn der Dreharbeiten, die beabsichtigten Ergebnisse vorauszuberechnen und damit letztendlich das Gesamtkonzept des Sendeformats festzulegen. Wer also wirklich immer noch an die wahre Liebe glaubt, die solche Formate wie „Schwiegertochter gesucht“ oder „Bauer sucht Frau“ angeblich kreieren, der hört bitte an dieser Stelle mit dem Lesen dieses Essays auf und vergisst all die vorangegangenen Ausführungen.
Diese gescriptete Realität wirkt sich somit auch unmittelbar auf die präsentierte Identität der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus. Nicht mehr ihre wirkliche, reale Identität steht im Fokus dessen, was die Kamera dokumentieren soll und was die Montage letztendlich zur Sendung komprimieren soll, sondern das auf den Effekt, das Ziel der Sendung, gescriptete und vordefinierte Selbst bildet Zentrum der Dokumentation und Montage.
So ist mit an hundertprozentiger Sicherheit davon auszugehen, dass all diese Aspekte, die Steuerwald in seinem Essay als Kernelemente der Identitätskonstruktion darlegt, in den Sendungsformaten zu vorherbestimmten und vorabdefinierten Elementen verkommen, die letztendlich die Identität der ProtagonistInnen so formen, dass sie sich in die Gesamtheit des Sendeformats homogen einfügen. Wer würde auch in der Realität den ganzen Tag mit einer Glitzerplastikkrone auf dem Kopf umherlaufen und sich am Ende seiner Tage wundern, warum er so allein im Leben war?
Dieser Effekt der fremdstrukturierten und vordefinierten Identität wird zusätzlich in seiner Dokumentation durch das Medium Film, dass in seiner Qualität immer eine Abstraktion der Realität darstellt, und die anschließende Montage weiter radikalisiert. Die Montage kann so letztendlich aus den Fragmenten, die die Kamera auf Zelluloid oder das Speichermedium bannte, eine völlig eigenständige Realität und eine, in dieser Realität handelnde und sich in dieser Realität konstruierende, Identität basteln, montieren und präsentieren. Da verkommen Familienväter zu psychopathischen Kreaturen, die einem Charles Manson alle Ehre gereichen würden und heimattreue Bewohner des tiefsten Bayerns zu Epigonen eines naturverbundenen, aufrechten, ehrlichen und treuen Lebensstils auf dem Land, an denen sich alle Subjekte aus den urbanen Lebensräumen nur ein Vorbild nehmen können.

Die letztgenannten, positiv determinierten, Landbewohner bilden im Format der Sendungen die absolute Ausnahme. In der Regel sind die Charaktere Gestalten des Untergangs und ihre Geschichten sind Geschichten des Niedergangs, geprägt und gestaltet durch die defizitären Identitäten der präsentierten Individuen. Und dies ist der entscheidende Aspekt und der dominanteste Signifikant in der medialen Konstruktion der Identität: Die dargestellten Identitäten sind immer defizitär, zumeist zusätzlich stigmatisiert und repräsentieren somit immer eine Gruppe von Menschen, von denen sich die Sendung zugleich, in ihrer Präsentation, abgrenzt! Die Sendungen zeigen nicht das Normale, sondern konstruieren das Außergewöhnliche aus dem Normalen heraus. Sie beuten das von ihnen erschaffene Außergewöhnliche aus. Die Sendungen beuten die defizitäre Identität primär auf der Ebene der Kreation von Schauwerten aus, sekundär aber auch auf der Ebene der Formulierung einer regressiven Kritik, die unter Bezugnahme auf die von den defizitären Identitäten verkörperten Gruppen konstruiert wird und auf die an späterer Stelle nochmals eingegangen werden soll.
In ihrer Form der Repräsentation sind die Sendungen zugleich immer Diskriminierung der, von ihnen konstruierten, Realität, die sie in ihrem Sein ausbeuten und darstellen und, auf den konkreten Effekt zielend, der Öffentlichkeit darlegen.

Grund dieses Prozesses wählte der Titel dieser Ausführungen die Bezeichnung „Exploitation“, die ab den 1970 Jahren filmische Machwerke bezeichnete, die sich an Bildern von populären Filmen bedienten und diese für ihre Zwecke ausbeuteten. Es sei hier nur an die diversen Hexenfolterfilme oder frühen Zombiestreifen aus dem Italien der 1970er und 1980er Jahre gedacht, ebenso an die Welle von „Naziexploitationfilmen“, wie „ILSA – She wolf of the SS“ oder „Salon Kitty“. Das was das „Reality TV“ mit realen Identitäten vollzieht, ist völlig im Geiste dieser Exploitation!

Wenn die Sendung „Ein Bus voller Bräute“ uns, dieser Logik folgend, ein Bild von 20, durch das moderne, mondäne und großstädtische Leben geprägte, Frauen präsentiert, so ist dieses Bild der Moderne und seiner dominierenden städtischen Lebensform in diesem Moment der Aspekt, der das Defizitäre der Identität formt. Ihre Lebenswelt und die gewählte Lebensform hindert die Frauen ihre Bestimmung zu finden, nämlich die der wahren Liebe. Und wenn dann diesem kreierten Bild in den ersten Folgen eine scheinbare Idylle des Dorfes, bewohnt von lauter ehrbaren, aufrechten und strammen Männern, entgegengesetzt wird, dann spätestens ist der Punkt erreicht, an dem die mediale Konstruktion der Identität in eine regressive Kritik an der Moderne und am poststrukturalistischen Individuum im Allgemeinen, überführt wird. Ohne auf diese letzte Konsequenz des Sinns der medialen Kreation der defizitären Identität weiter einzugehen, sei an dieser Stelle erwähnt, dass ähnliche Ausformungen regressiver Kritik ebenso in Serien wie „Bauer sucht Frau“, in seiner Idealisierung der bäuerlichen Gemeinschaft und Arbeit oder der Sendung „Schwiegertochter gesucht“, in seiner Verklärung von familiären Strukturen, aufzuzeigen sind.

Was aber veranlasst, insbesondere in Anbetracht dieser Masse an Aspekten, die letztendlich zur völligen Aufgabe und fremdgesteuerten Transformation der eigenen Identität im Medium Fernseh führt, Menschen dazu, sich diesem Prozess zu unterwerfen?
Es ist wahrscheinlich das, was Andy Warhol vor fast 30 Jahren mit seinem Satz über die 15 Minuten Ruhm, die jedem Menschen irgendwann einmal zukommen, beschrieb. Es ist der Drang von Individuen in dieser, von den Medien geschaffenen Illusion, die das Normale zum Außergewöhnlichen, den Alltag zum Spektakel erhoben hat und dergestalt Tag um Tag auf unseren Fernsehbildschirmen inszeniert, zu partizipieren. „Reality-TV“ erschafft, nicht nur wegen seiner vollendeten Illusion einer Realität, sondern gerade wegen seiner Mittel der Konstitution den Glauben, dass es einem jeden Menschen möglich ist, an dieser Welt zu partizipieren und somit seine 15 Minuten Ruhm im wahrholschen Sinne zu erlangen.

Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben innerhalb der westlichen Zivilisationen zu einem Zwang der totalen und allumfassenden Individualisierung geführt. Es reicht nicht mehr, sich nur über seine private oder berufliche Identität zu definieren, sondern ein jeder Mensch ist dazu angehalten seine Identität zum absoluten Unikat zu formen und dergestalt zu präsentieren. Die Profile des sozialen Netzwerkes „facebook“ legen hiervon eindrucksvoll Zeugnis ab.
Es liegt im Wesen dieser postkapitalistischen Gesellschaft, im Wesen eines jeden einzelnen Individuums, immer wieder aufs neue Bedürfnisse zu erzeugen, die der unmittelbaren Befriedigung bedürfen und ohne deren Befriedigung ein Aufrechterhalten der Identität als Unmöglichkeit erscheint. Diese Erzeugung erfolgt dabei zumeist über die Illusion von Defiziten. So können unsere Autos nie schnell genug, die Häuser nie schön genug eingerichtet und die Fernseher nie zu groß sein. Die Sendungsformte des „Reality-TV“ erheben das menschliche Bedürfnis nach Individualität, in direkter Korrelation zum postkapitalistischen Produktionsprozess, zu einem Produkt, dass ebenso wie der neue LCD Fernseher oder der neue VW-Kombi, letztendlich doch nur ein Produkt des Konsums darstellt. Ein Produkt aber, dass zu Salutogenese der eigenen defizitären Identität konsumiert werden muss um diese wieder herzustellen. Und so bilden die ProtagonistInnen und Protagonisten, die ihre eigene Identität durch die tägliche Gehirnwäsche des Fernsehprogramms als defizitär empfinden und die TV-Serienformate, die augenscheinlich eine Genese von diesen Defiziten verheißen, sie aber in ihrem inneren Wesen nur produzieren und reproduzieren, eine unheimliche Allianz, die letztendlich zu einem Kreislauf führt, der sich immer wieder aufs Neue zyklisch erneuert.
Und so sollten wir uns alle nicht verwundern, wenn wir mal wieder, durch zwei gebrochene Beine bedingt, eine Woche auf dem Sofa verbringen müssen, uns in diesem Moment dann wieder solche Charaktere wie Ronja aus dem „Bus voller Bräute“, Beate aus „Schwiegertochter gesucht“ oder Schäfer Heinrich aus „Bauer gesucht“ bei Peter Zwegat wiederbegegnen. Oder vielleicht dabei beobachtet werden können, wie alle zusammen eine Imbissbude in Eisleben betreiben, die gerade von irgendeinem Resturantester überprüft wird.
Der autopoisische Charakter des „Reality-TV“, der in seinem inneren Wesen der kontinuierlichen und nicht endenwollenden Exploitation defizitärer Identitäten bedarf, um immer wieder auf das Neue Bedürfnisse zu erschaffen, wird uns an dieser Stelle sicherlich nicht enttäuschen.


Quellen:

Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main, 1988

Marx, Karl: Ökonomisch-philosophisch Manuskripte. (1844; Auszüge), in: Fischer, Iring: Karl Marx. Das große Lesebuch, Frankfurt am Main, 2008

Steuerwald, Christian: Wer bin ich? Soziologische Antworten und künstlerische Übersetzungen, in: Schader-Stifung; Hessisches Landesmuseum Darmstadt (Hrsg.): Ansichten des Ich. Bilder gesellschaftlichen Wandels 10, Darmstadt, 2011