Sonntag, 14. Juni 2015

Dystopische Utopie - Turbobier als katharisches Theater

„Du bist schön und jung und starkNimm dir was du willstNimm dir was du willstSolang du nur noch kannstVerschwende deine Jugend“-D.A.F. / Verschwende deine Jugend-


„Floschnpfand“, „Fuaßboiplatz“, „Notstandshüfe“, oder eben „Arbeitlos“. Wer sich derzeitig in Österreich mit aktuellen Bands und KünstlerInnen beschäftigt, der wird neben den obligatorischen „Chart-Stars“, wie „Bilderbuch“, „Wanda“, „Nazar“ und den „Makemakes“, an einer Formation nicht vorbeikommen: „Turbobier“1.
Die Jungs Doci Doppler, Fredi Füzpappn, Baz Promüü und der umtriebige Marco Pogo sorgen nicht nur allein wegen ihrer Namen für Knoten in den Zungen ihrer „hoch“deutschsprachigen Fans, sondern begeistern mit ihren Videos zehntausende ZuschauerInnen. Und auch im realen Leben spielt sich die Formation seit geraumer Zeit von einer ausverkauften Location zur Anderen. Den vorläufigen Höhepunkt im Universum „Turbobier“ bildet aber mit Sicherheit das seit dieser Woche erhältliche Album „Irokesentango“.

Doch was steckt hinter den vier, scheinbar immer volltrunkenen, Herrn und ihrem künstlerischen Output?

In der moralischen Entrüstung schwingt auch immer die Besorgnis mit, vielleicht etwas versäumt zu haben.
-Jean Genet-

Der naheliegende Versuch „Turbobier“ als dreckige Stiefgeschwister eben dieser Bands, wie den oben erwähnten „Wanda“ und „Bilderbuch“, zu begreifen ist allein deswegen zum Scheitern verurteilt, da es „Turbobier“ nicht eben nur um die Musik allein geht; denn diese dreht sich Punk/Oi-typisch vordergründig erst einmal um Bier, staatliche Zwangsmaßnahmen zur Wiedereingliederung und Fußball und ist damit, bis auf die Vortragsweise in Wiener Mundart nicht unfassbar innovativ, sondern besticht mehr durch das variantenreiche Spiel mit den genretypischen Klischeefacetten.
Was „Turbobier“ aus der Menge herausragen lässt, ist ihre Verquickung von Musik, Theater, Videokunst und der medialen Präsentation dieses Gemisches über die verschiedensten Netzwerke der digitalen Welt und den Bühnen des deutschsprachigen Raumes.
Es ist deswegen nicht nur der Versuch falsch „Turbobier“ mit anderen Bands zu vergleichen, denn vielmehr grundlegend die Klassifizierung von „Turbobier“ als Band überhaupt. Der Versuch all die dargelegten Bereich der Tätigkeit zu subsumieren weckt deswegen bewusst auch eher Assoziationen zu anderen Künstlerkollektiven, wie „Laibach“ oder auch „Crass“, denn zu Bands, wie „Kraftclub“ oder eben „Wanda“ - „Turbobier“ ein anarchistisches Gesamtkunstwerk!

Gewichtig wird diese Erweiterung des Fokus in Anbetracht eines Zitats von Christoph Schlingensief:

Das ist eben das große Pro von Theater, von Fiktion: dass es sich Dinge erlauben kann, zum Beispiel auf der Bühne jemanden zu töten oder seinen Kopf zu fordern – ohne Konsequenzen. Ich war immer ein Gegner von diesem blöden griechischen Theater, aber, auch hier wieder: Je älter ich werde, desto mehr finde ich es toll, von Katharsis zu reden.“2

Und weiter, den Effekt der Katharsis auf das Individuum begreifend:

Wenn ich eine gute Theaterinszenierung anschaue, genauso wie einen guten Film, dann denke ich inzwischen tatsächlich manchmal: Wie gut, dass der den umgebracht hat, dann brauch ich´s nicht mehr zu machen.“3

Es ist deswegen auch der Moment des Exzesses und dessen theatralische Darstellung die „Turbobier“ von anderen Bands aus dem Bereich des Oi- und Punkrock differenziert.
„Turbobier“ ist per se die proletoide Version von Herman Nitschs „Orgien Mysterien Theater“, was aber keinesfalls als Abwertung zu verstehen ist, denn vielmehr als großes Kompliment. Wo Nitsch über Bedeutungslosigkeit mit mythengeschwängerten Bildern hinwegtäuscht, da generieren „Turbobier“ aus den scheinbar bedeutungslosen Bildern und Aktionen neue Mythen des Seins.

Kommen wir deswegen zurück zu geistigen Steinbrüchen der Band: Das Fundament des Oi bildet vielfach die Konstitution eines, wie auch immer gearteten, Gefühls als „Working-Class“. Über die imaginierte Schichtzugehörigkeit, deren Sedimentierung und die „Lobgesänge“ wird Gemeinschaft generiert und erhalten. Punk ist, oberflächlich geschrieben, zwar ideologisch ausdifferenzierter, verweist aber in seiner Musik im Jahr 2015 in den wenigsten Fälle auf das einstige Motto „No Future“ und verweigert sich damit einer radikalen Ablehnung und Apathie gegenüber dem gesellschaftlichen Fortbestand. „Turbobier“ hingegen wählen als künstlerischen Ausgangspunkt einen stark existenzialistischen Fokus, der das Individuum und dessen aus der Essenz zu schaffende Existenz als primären Zirkulationspunkt wählt.
„Turbobier“ gehen hierbei bewusst weiter. Weiter, als DAF es noch in den 80er taten, als sie ihre HöhrerInnen dazu aufforderten, ihre Jugend zu verschwenden. Bei „Turbobier“ wird das Verschwenden zum primären Moment der Existenz erweitert: Verschwende dich selbst!
Die Verschwendung und damit grundlegend der Moment des Exzesses werden jedoch einer positiven Umdeutung unterzogen: Der Moment des selbstzerstörerischen wird zum hedonistischen Nihilismus.


„Turbobier“ feiern nicht die Option eines richtigen Lebens im Falschen, oder eben die Illusion, dass die kapitalistische Ordnung der Körper eine Inszenierung des Selbst im Korsett der Norm belohnen könnte. „Turbobier“ feiern vielmehr, wenn auch unter einer Schicht von Humor und Sarkasmus verborgen, die Option der bedingungslosen Selbstauflösung des Ichs im masochistischen Rausch als letzten wirklich selbstbestimmten Moment, in einer gesellschaftlichen Ordnung, deren Wesen die Zerstörung des Individuums zwecks sinnentleerter Mehrwertproduktion feiert.
Der „Drangler“ ist deswegen keine „No-Future“ Ikone, denn vielmehr die mythische Ikone, die ihr Sein in gesellschaftlicher Isolation und selbstauferlegter Marter fristet, um, ganz im Sinne Batilles, wirkliche Transzendenz und Individualität erleben zu können. Der „Drangler“ als Märtyrer und die „Hüsn“ als Relikt und Reliquie des kathartischen Aktes den „Turbobier“ in ihrem Theater aufführen, in ihren Liedern besingen und in ihren Facebookposts kreieren. Die, allein und gerade wegen ihres Strebens nach Freiheit und dem Aufzeigen gesellschaftlich hegemonial getarnter Lügenmärchen, positive Antithese zu den Heilsversprechen des glücklichen Menschen in der „Sozialen Marktwirtschaft“.

Alkoholismus ist bei „Turbobier“ deswegen immer als ein sinnlicher Akt zu begreifen, der seinen Vollzug in einer Umgebung erfährt, die ihre Sinnlichkeit und Lust längst in den vollends entleerten Pornos und übersexualisierten Medienformaten aller Art verloren hat. Das Bier ist auch deswegen Fetisch, gerade eben auch in sexueller Natur, weil es eine direkte Sinnlichkeit im Sinne des bloßen Seins verspricht. Das Bier und der Rausch nehmen der Essenz ihre Existenz. Der Rausch wird zum Akt der Zerstörung der Konventionen, das Bier zum Zeremonienmeister, dem „Turbobier“ selbst zudem in einer theoretisch abstrakten Form in ihrem „Format“ der „Bierpartei (BPÖ)“ huldigen.



Die positiven Gesänge über den Rausch, die Suche nach einem offenen Beisl in der Nacht, oder dem Flaschenpfand können und müssen deswegen als lyrische Figuren und Kompositionen verstanden werden, die in ihrem Wesen fast unausweichlich an die lyrischen Bilder Jean Genets gemahnen. Wo Genet Matrosen und Mörder besingt, da sind es bei „Turbobier“ die „Drangler“ und sozial Ausgegrenzten.



Ganz im Sinne Batilles verweist der scheinbar dystopische Akt der Selbstauflösung und Zerstörung immer auf den Moment der Transzendenz, indem die Dystopie in die Utopie kippt und letztendlich bei „Turbobier“ nicht mehr und nicht weniger ist als die völlige Befreiung des Individuums aus den Zwängen des gesellschaftlichen Seins, allen voran die sinnlose Ausbeutung des Selbst für eine Ordnung, die niemals ihre Versprechen eingehalten hat. Die Kunst von „Turbobier“ ist allein deswegen Katharsis, da sie uns einen existenziellen und dystopischen Weg in die Utopie gemahnt. Zugleich aber auch auf das kreative, humorige und gewaltige Potential aller Menschen verweist, die
ihren Frust ziellos sublimieren: Arbeitslos durch die Nacht, dass heißt auch frei durch die Nacht! Prost!


Das Album kann unter: http://turbobier.at/irokesentango bestellt werden. 
Wer sich Turbobier live geben möchte - hier geht das:http://turbobier.at/tour


1In Deutschland wird ein „Turbobier“ eher unter dem Namen „Dosenstechen“ ein Begriff sein. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Dosenstechen
2Schlingensief, Christoph: Ich weiß, ich war´s, München: Kiepenhauer und Witsch, 2012, S. 104

3Ebd.

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